Rostock. Bravo! Chapeau! Respekt! Eigentlich kommt der Applaus zum Schluss. Doch vor diesen leidenschaftlichen und hoch veranlagten Studenten sollte man seinen Hut so bald wie möglich ziehen. „Sex und Liebe“ heißt das Stück in der Regie von Sewan Latchinian, das Volkstheater und Hochschule für Musik und Theater (HMT) Freitag vor 250 Zuschauern aufführten.
Nicht, wie geplant, im Theater, sondern wegen der fristlosen Entlassung des Intendanten Latchinian im Katharinensaal der HMT. Ein Kraftakt, den Regie, Dramaturgie und Ensemble in vier Tagen stemmten.
Wegen der Verlegung musste das Stück umgeschrieben werden, die Schauspieler auf Kostüme und Requisite verzichten. Also spielten sie in Unterwäsche, konsequent und geistreich – so zeigen Studenten, wie sie sich in heutiger kommunaler Kulturpolitik behandelt fühlen. Ausgezogen, bis aufs Hemd. Und sie kriegen einen Eindruck, was auf sie zukommen kann, wenn sie mal am Theater landen. Was den Menschen – nicht nur Mitarbeitern, Menschen! – am Volkstheater seit Jahren angetan wird, ist unzumutbar.
Das Stück wurde, da die Bühne im Theater ja ausfiel, auf die Tribüne des Katharinensaals verlegt, das Publikum saß auf der Bühne. Ein dramaturgischer Kunstgriff – für die, die was sehen konnten. Die Studenten nutzten den Raum in seiner gesamten Tiefe als Bühne für Auf und Ab des Figurenpersonals, das hinter Stuhlreihen verschwand, überraschend wieder auftauchte oder in Spielpausen still verharrte. 23 Szenen von „Romeo und Julia“ und „Ein Sommernachtstraum“ als Two-in-one-Stück sagten oder schrien sie selbst an. Es ist schade, dass diese anspruchsvolle Inszenierung durch die Umstände inhaltlich an den Rand gedrängt wird, zumal das den HMT-Studenten nun zum zweiten Mal passiert. Ein Umstand, der nahelegt, welchen Stellenwert Kunst und Kultur und ihre Protagonisten in Rostock besitzen. Latchinian sagte, er sei froh, dass die Schauspieler es geschafft hätten, unter widrigen Bedingungen das Stück auf die Bühne zu bringen. Mit diesen Talenten könne er unter anderen Bedingungen noch mehr schaffen. „Wir haben gesehen, wie man aus fast nichts viel machen kann.“ Es wäre eine Schande, wenn diese Inszenierung nun nur ihre Premiere erfährt. Weitere neun Aufführungen sollen wegen der Umstände gekippt werden. Darüber nachzudenken, ob sich das nicht ändern ließe, ist man diesen jungen Leuten schuldig. Wegen des unwürdigen Procederes wurde das Wort „Kooperation“ mit dünnem Kugelschreiberstrich aus dem Programm getilgt. Dramaturg Martin Stefke sagt, dafür habe HMT-Rektorin Susanne Winnacker persönlich gesorgt. Winnacker: „Es ging mir darum, diesem Schauspieljahrgang die Möglichkeit zu geben, bis zum Schluss mit dem Regisseur, mit dem sie angefangen haben, arbeiten zu können.“ Das ist ohne Zweifel gelungen. Mit der Adaption von zwei Shakespeare-Stücken im Doppelpack stand das Personal vor einem Berg. Dieses Projekt, Ähnliches hat das Theater Würzburg 1992 mal am Beispiel Büchners mit „Woyzeck“ und „Leonce und Lena“ ebenso erfolgreich gestemmt, ist allein wegen der Textmenge höchst ambitioniert. Aber es ist auch naheliegend. Latchinian verbindet über die Klammer „Liebe“ und ihrer irdischen Erscheinungsform, dem „Sex“, die Themen menschlicher Leidenschaft von Hass bis Machthunger zu großem Bühnenstoff. Da wird deutlich, was Rostock künstlerisch verloren geht. Die wohl größte Liebesgeschichte der Menschheit endet wie bekannt in einer Katastrophe, das humorige Verwirrspiel indes für alle glücklich. Die rasante Inszenierung zwischen schöner Sterben mit Mercurio und Chippendales-Men-Strip hat Relevanz, Tiefe, Witz, spannende Einfälle und schrammt in der Kurve zum Klamauk die Bande nur leicht. Wenn das aus Sicht der Verantwortlichen weder Kooperation noch Koproduktion war, sollte man schleunigst damit anfangen – bevor das in Rostock gar nicht mehr geht.
Michael Meyer und Joachim Mangler