Buenos Aires. Japans Premierminister Shinzo Abe weinte spontan, in der Heimat lenkte Tokios zweiter Olympiasieg nach 1964 zumindest kurz von den gravierenden Problemen um die Reaktorruine in Fukushima ab. Der 60:36-Sieg der 35-Millionen-Metropole im Wahlfinale gegen Istanbul belohnte die aufstrebende Sportmacht Asien mit dem nächsten Milliardengewinn Olympia 2020 — und stürzte das IOC in Erklärungsnot. „Ich bin überwältigt. Wir brauchen Träume und Hoffnung, um unseren Wiederaufbau voranzutreiben“, erklärte Abe in Buenos Aires. „Die Freude war größer als bei meinem eigenen Wahlsieg.“
Die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) verkauften den Zuschlag für Tokio als Entscheidung für Sicherheit, Tradition und Stabilität. In Wahrheit aber haben sie ihr Schicksal und das ihrer Athleten mit einem schwer beschädigten Atomreaktor verknüpft. Seit der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe am 11. März 2011 reißen die Hiobsbotschaften aus Fukushima nicht ab. In der Vorwoche wurde dort sogar ein Strahlenrekordwert gemessen, der für Menschen ohne Schutzanzug innerhalb von vier Stunden tödlich ist. Nuklearverseuchtes Wasser aus undichten Kühltanks sickert in den Pazifik, weitere Lecks werden befürchtet.
250 Kilometer weiter südlich in Tokio sei das Leben normal und „alles unter Kontrolle“, versicherte Abe, der nach einer 16-stündigen Anreise direkt vom G20-Gipfel aus St. Petersburg seinen Auftrag als Krisenmanager erfüllte. Die Verseuchung in Fukushima beschränke sich auf einen Umkreis von 300 Metern um den Hafen vor der Atomruine. Und diese Fläche sei eingegrenzt. Laut Tokios Gouverneur Naoki Inose werde der olympische Fackellauf durch das betroffene Gebiet führen.
Für die vermeintlich verantwortungsbewussten Olympier schien der Nuklearunfall weniger bedrohlich zu sein als die spanische Wirtschaftskrise und Arbeitslosenquote von 26,3 Prozent, die Madrids dritte Kandidatur belastete. Auch Istanbul, gehandicapt durch die kritische innenpolitische Lage in der Türkei und die Nähe zum Bürgerkrieg im benachbarten Syrien, war chancenlos. Madrid scheiterte nach einer Stichwahl mit dem Mitstreiter vom Bosporus — beide Bewerber hatten je 26 Stimmen — überraschend in Runde eins.
„Glückwunsch an Tokio! Wir sind zuversichtlich, dass unsere Freunde ausgezeichnete Spiele ausrichten werden“, sagte IOC- Präsident Jacques Rogge bei der Unterzeichnung des Veranstaltervertrages drei Tage vor dem Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit. Nach den drohenden Problem-Spielen 2014 in Sotschi und 2016 in Rio habe es eine große Rolle gespielt, dass Tokio „sichere Spiele“ abliefern könne, räumte IOC-Vize Craig Reedie ein.
Tokios Olympiasieg im Kampf um die Sommerspiele 2020 könnte auch einer möglichen Münchner Bewerbung für die Winterspiele zwei Jahre später in die Karten spielen. Unmittelbare Folgen für die bayerische Landeshauptstadt hat die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) pro Japan zwar nicht — dennoch erkennen die Verfechter eines erneuten Anlaufs nun glänzende Aussichten.
Als Zusatzsportarten für die Spiele 2016 in Rio de Janeiro und Tokio 2020 standen zuvor bereits Golf und 7er-Rugby (jeweils Männer und Frauen) fest. Die 25 olympischen Kernsportarten für 2020: Badminton, Basketball, Bogenschießen, Boxen, Fechten, Fußball, Gewichtheben, Handball, Hockey, Judo, Kanu, Leichtathletik, Moderner Fünfkampf, Radsport, Reiten, Rudern, Segeln, Schießen, Schwimmen, Taekwondo, Tennis, Tischtennis, Triathlon, Turnen und Volleyball. Zusätzliche Sportarten für 2016 sind Ringen, 7er-Rugby und Golf, für 2020 Ringen, 7er-Rugby und Golf. Squash und Baseball/Softball sind in einer Stichwahl an Ringen gescheitert.
2 Hat diese Wahl in irgendeiner Form Einfluss auf die morgige Präsidentenwahl, bei der Sie sich zur Wahl stellen? Nein. Das sind zwei ganz verschiedene Wahlen, und die IOC-Mitglieder halten das strikt auseinander.
3 Gibt die Wahl Tokios irgendwelche Rückschlüsse auf eine mögliche Olympiabewerbung von München 2022? Nein, sie hat auf den Winterzyklus keinen Einfluss. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Türkiye (Türkei): Wir haben Olympia verloren, wir nehmen die Fußball-Europameisterschaft ins Visier. Der Türkische Verband wird sich für das Paket mit dem Finale der Euro 2020 bewerben.
Marca (Spanien): Ein olympischer Schlag. Das IOC lehnt die finanzielle Sparsamkeit ab und zieht den Investitionsaufwand vor. Das IOC beerdigt unseren olympischen Traum.
L‘Equipe (Frankreich): Tokio wird das olympische Feuer wieder entfachen. Die Wahl gibt einem Land und seinen Menschen die Hoffnung wieder, die nach der Katastrophe von Fukushima schon verloren schien.
Gazzetta dello Sport (Italien): Tokio siegt mit einer perfekten Kandidatur, die die Illusionen von Madrid und Istanbul vernichtet. Der Erfolg lag in der Luft, weil die Japaner für dieses Ergebnis hart gearbeitet haben.
Daily Telegraph (England): Die japanische Hauptstadt verdampft Madrid und Istanbul im verregneten Buenos Aires. Tokios finaler Vorsprung gegen Istanbul war massiv.
Neue Zürcher Zeitung (Schweiz): Die Japaner offerierten dem IOC grüne Spiele und politische Stabilität.
Sven Busch