Greifswald. Dr. Annerose Schulz hat die Niederschriften des praktischen Arztes Dr. Dr. Paul Braß ausgewertet, der vom sowjetischen Stadtkommandanten 1945 zum Amtsarzt berufen wurde.
Greifswald hatte 1945 fast 70 000 Einwohner, doppelt so viele wie 1939. Die Situation war äußerst schlimm.
Im Juli 1945 schrieb Braß der sowjetischen Besatzungsmacht: „Der Typhus ist stark im Zunehmen begriffen, ebenso die Ruhr. Die Diphtherie-Erkrankungen befinden sich weiter im Anstieg. Es fehlt Diphtherie-Serum! Die Zahl der unterernährten Kinder nimmt ebenfalls weiter in erschreckendem Maße zu. Die Zahl der Geschlechtskrankheiten steigt weiter an. Von der Universitäts-Frauenklinik wurden in der Woche vom 29. Juli bis zum 4. August 200 Vergewaltigungsfälle gemeldet, davon waren 39 Frauen schwanger, eine Tripper-Infektion hatten 9, Syphilis-infiziert war eine Frau. Dringend ist die Beschaffung von Medikamenten: Insulin für Diabetiker, Diphtherie-Serum für Diphtherie-Erkrankte, Herzmittel, Sulfonamide, Wismutpräparate, Desinfektionsmittel, Seife, Krätze- und Entlausungsmittel. Die Typhusschutzimpfungen werden weiter durchgeführt. Die Sterblichkeit an Typhus beträgt bei Einheimischen 14 Prozent, bei Flüchtlingen 20 Prozent. Die Diphtherie verläuft in vielen Fällen tödlich, da kein Diphtherie-Serum mehr vorhanden ist. Die steigenden Seuchenzahlen sind auch durch die abnehmende Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung infolge der Unterernährung bedingt.“ In den nächsten Wochen beschreibt Braß immer wieder die etwa gleiche oder etwas höhere Zahl an Vergewaltigungsopfern: „Davon wurden drei Dutzend schwanger, drei Dutzend mit Tripper infiziert, einige SyphilisAnsteckungen sind auch immer dabei.“
Mitte September erreicht die Typhus-Epidemie ihren Höhepunkt. Braß schreibt: „Die Diphtherieerkrankungen verlaufen immer häufiger tödlich. Es ist kein Serum vorhanden! Die Geschlechtskrankheiten nehmen weiter zu! Die Klasse C bei den Lebensmittelkarten ist stark gefährdet: bei ihnen macht sich der vollkommene Mangel an Fett bemerkbar. Für die kommenden Monate ist die Beschaffung von Zucker, Nährmitteln und Milch, besonders für Kleinst- und Schulkinder, dringend erforderlich. Für die Kliniken ist die Beschaffung von Kohle eine Lebensfrage, da mit Holzfeuerung allein der Betrieb nicht aufrecht erhalten werden kann. Es führt zu mangelnden Desinfektions- und Sterilisationsmöglichkeiten.“
OZ