Bürgermeister von Bad Doberan: „Ich bin von der Regierung enttäuscht“

Jochen Arenz (parteilos) ist seit einem Jahr Bürgermeister der Stadt Bad Doberan und hat sich mit einem Appell im sozialen Netzwerk Facebook an die Bundes- und Landesregierung gewandt. Er fordert konsequentes Handeln, eine Ausgangssperre und 10 000 Euro Soforthilfe für Kleinstbetriebe. Mehr als 1400 Mal wurde der Post bereits geteilt. Im OZ-Interview erzählt der Bürgermeister von den Beweggründen, wie sein erstes Jahr als Rathauschef war und wie es Bad Doberan in der Krise geht. Jochen Arenz, Bürgermeister der Stadt Bad Doberan, schrieb am 21. März im sozialen Netzwerk Facebook: „Liebe Bundesregierung, liebe Landesregierung in Schwerin, mit heutigem Datum, dem 21. März 2020, bin ich genau ein Jahr Bürgermeister von Bad Doberan. Ich erlebe gerade nach dem Hochwasser die zweite Naturkatastrophe meiner Amtszeit. Ich klage euch an: Warum handelt ihr nicht konsequent, warum lasst ihr es zu, dass immer mehr Menschen sterben und unsere Gesellschaft zugrunde geht? Verhängt sofort mit Härte eine Ausgangssperre. Schließt sofort alles nicht Überlebenswichtige. Warum lernt ihr nicht von China, dort gibt es seit zwei Tagen keine Neuinfektionen mehr? Zahlt den Kleinstbetrieben 10 000 Euro Soforthilfe aus, unsere Mittelständler werden die Krise so nicht überleben. Beendet die Schuldenbremse. Gebt alles rein, was wir haben. Sparen für schlechte Zeiten? Die sind genau heute! Wir Bürgern sind zu allen Opfern bereit, euer Nichthandeln verlängert das Sterben und unser Leid, werdet endlich zu Helden. Euer Jochen Arenz, Bürgermeister Stadt Bad Doberan. Bitte teilen.“ Sie sind jetzt ein Jahr im Amt, erleben gerade nach dem Hochwasser im Sommer 2019 die zweite Krise. Sie haben die Bundes- und Landesregierung angeklagt. Warum? Weil mir die eingeleiteten Maßnahmen nicht gereicht haben. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar gewesen, dass unsere Läden geschlossen und parallel die Straßen voll sind, beim Bäcker gesessen werden konnte. Ich fand diese Maßnahmen halbherzig und jeden Tag, den wir heute verlieren, verlängert das Leid und das Elend der Menschen. Es geht um Menschenleben und um wirtschaftliche Existenzen. Von daher bin ich durch dieses inkonsequente Verhalten der Bundesregierung sehr enttäuscht gewesen und habe das zum Ausdruck bringen wollen. Und das haben Sie zum Teil mit sehr harten Worten formuliert. Sie klagen an, dass die Gesellschaft zugrunde geht. Das ist so. Wenn die Krise zu lange dauert, können die Leute nicht mehr ihre Miete und anderes bezahlen. Die Einzelhändler bleiben auf der Ware sitzen, die Pacht läuft weiter. Es wird eine Grenze überschritten, bei der die Gesellschaft auseinanderbricht. Ich weiß nicht, wie das Land das stemmen will. So viele Hunderte Milliarden Euro gibt es gar nicht, um das zu decken, was gerade an Schäden entsteht. Und um das einzugrenzen, fordere ich konsequentes Handeln vonseiten der Politik, um dieses Elend zu verkürzen. Die Regierung hat doch Soforthilfen angekündigt und schnürt Hilfspakete. Ja, das ist auch sehr gut. Es hilft den Leuten aber nicht, wenn Soforthilfen als Kredite ausgezahlt werden. Es muss für die Kleinstbetriebe als Soforthilfe 10 000 Euro in Bar oder überwiesen geben, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Das geht natürlich nur nach Antrag. Sie hatten in dem Post auch angemahnt, sofort alles nicht Überlebenswichtige zu schließen. Das ist ja mit der Entscheidung der Kanzlerin und Ministerpräsidenten am Sonntag passiert. Reicht das jetzt aus? Ich wäre noch weiter gegangen, einfach um die Zeit, bis die Corona-Krise überbrückt ist, zu verkürzen. Ich hätte ab 18 Uhr einen Ausgangsstopp gemacht, hätte noch konsequenter gehandelt im Interesse der Menschen. Es ist alles viel zu spät gekommen. Erst die Schulen und Kitas geschlossen, aber die Geschäfte noch offen. Mir dauert das alles zu lange. Die Krise muss viel rigider eingedämmt werden. Mit 187 Infizierten, Stand Sonntagabend, in Mecklenburg-Vorpommern ist die Anzahl sehr gering. Einige halten die Maßnahmen auch für überzogen. Ich kann Deutschland nur als Ganzes sehen. Wir leben in einer globalisierten Welt. Es gab den Patienten X, der in China infiziert wurde, und jetzt sind 300 000 Menschen auf der Welt betroffen. Mecklenburg ist keine Insel. Es geht nur konsequent. Frankreich, Spanien und Italien haben es jetzt konsequent gemacht. Wir in Deutschland gehen immer noch nicht mit aller Härte gegen den Coronavirus vor. Und das verstehe ich einfach nicht. Die Corona-Krise ist die zweite Krise in ihrer Amtszeit. Das erste Katastrophenereignis war das Hochwasser im Sommer. Halten Sie der Regierung auch hier Fehlverhalten vor? Nein, überhaupt nicht. Wir haben es vor Ort mit dem Zweckverband Kühlung und den Menschen ganz toll hinbekommen. Das sind Naturereignisse, die kommen und gehen. Da werfe ich niemanden etwas vor. Ich muss auch sagen, das ist jetzt eine Herausforderung, die hat es noch nie gegeben. In der Regierung sind alles Menschen, da werden auch Fehler gemacht. Ich würde da niemals einen persönlich in die Verantwortung nehmen. Nur jetzt, wo das Ausmaß bekannt ist, muss alles auf eine Karte gesetzt und konsequent gehandelt werden. Die Menschen wünschen sich nichts mehr, als dass der Alltag wiederkommt. Sie sind zu jedem Opfer bereit, wenn Hoffnung auf eine Beendigung des Zustandes besteht. Das erlebe ich täglich in Bad Doberan. Wie geht es Bad Doberan in der Krisenzeit? Dem Einzelhandel, dem Tourismus, den Hotliers und dem Mittelstand geht es sehr, sehr schlecht. Da kullern Tränen. Wir kämpfen aber auch, haben die Onlineseite für den Lieferservice aufgebaut. Es ist ein großer Zusammenhalt. Die Stimmung als Ganzes ist noch gut. Aber dann hört man die Geschichte, dass Toilettenpapier und Seife aus öffentlichen Toiletten gestohlen werden … Dass es Menschen gibt, die in der Krise keine Solidarität üben, und aus Toiletten Klopapier klauen, da fehlt mir jedes Verständnis für, das ärgert mich. Das sind zum Glück aber Einzelfälle. Zwei Krisen innerhalb eines Jahres. Damit haben Sie sicherlich nicht gerechnet? Nein, damit konnte keiner rechnen. Aber es ist trotzdem ein tolles Jahr gewesen. Wir haben viel erlebt, die Menschen sind zusammengerückt. Mit den Blumenrädern ist ein neuer Geist in die Stadt gekommen, die Feier in der alten Klostervogtei werde ich im Leben nicht vergessen, die Ortsteilbegehungen haben viel Positives gebracht. Die neue Stadtvertretung ist toll, es gibt keinen Streit wie in der Vergangenheit. Die arbeiten konzentriert, sachorientiert und immer fröhlich und freundlich. Das erlebe ich auch in der Stadt. Die Menschen grüßen, gehen nett miteinander um. Sie sind ein sehr bürgernaher Bürgermeister. Beim Hochwasser sind Sie zu jedem aufs Grundstück, der um Hilfe gebeten hat, jetzt bieten Sie den Händlern Hilfe an, schreiben Referenzen. Sie machen schon mehr als ein Bürgermeister muss, oder? Ich sehe die Bürgermeisterarbeit nicht nur als Verwaltungsjob, sondern darin, dass ich der Ansprechpartner für die Bürger – für die kleinen und großen Nöte – bin. Das macht mir viel Spaß und ich glaube, die Menschen wissen das sehr zu schätzen. In Bad Doberan wird keiner alleingelassen. Lesen Sie auch: Corona-Krise: So hart trifft sie die Gastronomen in Bad Doberan Corona-Krise: Diese Händler aus MV bieten ab sofort Abhol- oder Lieferservice Live-Ticker zur Coronalage in MV Von Anja Levien