Militäreinsatz: Warum Ostseebäder 1919 für Touristen tabu waren

Am 28. Januar 1918 – am nahen Ende des Ersten Weltkrieges – trafen sich die Vertreter des Mecklenburgischen Ostseebäder-Verbandes zu ihrer Generalversammlung in Brunshaupten im Hotel „Fürst Blücher“. Auf der Tagesordnung standen die Verabschiedung eines Katalogs von Maßnahmen zur Vorbereitung der neuen Badesaison und eine Eingabe an den Stellvertreter des General-Kommandos des IX. Armeekorps zu Altona. Das Kaiserliche Militärkommando für zivile Nahrungsversorgung beabsichtigte, die Ostsee-Badeorte in diesem letzten Kriegsjahr zu schließen, weil die katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung mit Lebensmitteln im Deutschen Reich eine dringende Bekämpfung von Schleichhandel und unerlaubtem Hamstern erforderte. Dieses Schließungsvorhaben stieß sowohl bei den Teilnehmern der Generalversammlung des Mecklenburgischen Ostseebäder-Verbandes als auch zuvor bei den Brunshauptener Gemeindevertretern auf heftigen Widerspruch, denn mit jener Maßnahme würden die bereits sehr geschmälerten Einkünfte zahlreicher Hoteliers, Pensionsbesitzer und Vermieter ganz entfallen. Der Chef des Stabes des Armeekorps kündigte gleichzeitig an, den Schleichhandel mit Lebensmitteln in der Bäderregion auf das heftigste zu bekämpfen. Katastrophale Ernährungslage: Bereits in der zweiten Hälfte des Kriegsjahres 1917 war die Ernährungswirtschaft in Deutschland vollkommen zusammengebrochen, und die Schieberei mit Lebensmitteln hatte so gewaltige Ausmaße angenommen, dass die staatliche Kontrolle ausgehebelt worden war. Nachdem bereits im Januar 1915 Brot rationiert werden musste, ein Jahr später eine schlechte Kartoffelernte zu Hungerkrawallen geführt hatte, der sogenannte Steckrübenwinter die Hungersnot weiter verschärft hatte und im April 1918 nochmals die Brotrationen gekürzt worden waren, nutzten auch die an der Ostseeküste weilenden Badegäste ihren Aufenthalt, um Nahrungsmittel auf dem Lande zu ergattern oder gegen Wertsachen einzutauschen, um ihre hungernden Angehörigen und sich selbst mit den begehrten Lebensmitteln zu versorgen. Brunshaupten war einst eine eigenständige Gemeinde. Schon im 19. Jahrhundert profitierte sie vom Tourismus. 1881 kamen erste Badegäste, sechs Jahre später zählt der Ort 600 Einwohner und 300 Gäste. Heute gibt es Brunshaupten als eigenständigen Ort nicht mehr. 1937 wurden die Gemeinden Arendsee und Brunshaupten mit dem zugehörigen Gut Fulgen zur Gemeinde Brunshaupten-Arendsee zusammengeschlossen. Die Stadt Kühlungsborn entstand am 1. April 1938 durch die Umbenennung der ein Jahr zuvor administrativ vereinigten Gemeinde und Verleihung der Bezeichnung „Stadt“. Die stellvertretenden Generalkommandos für zivile Nahrungsversorgung und das Kriegsernährungsamt gingen energisch gegen diese Machenschaften vor. Das traf im besonderen Maße für das landwirtschaftlich geprägte Mecklenburg zu, wo Bauern und landwirtschaftliche Unternehmen regen Handel auf dem Schwarzmarkt betrieben und viele nur schleppend den staatlich verordneten Ablieferungen nachkamen. Für den Protest nach Rostock: Auch für das erste Nachkriegsjahr beabsichtigte die Mecklenburgische Landesregierung, die Ostseebäder vorübergehend bis zum 15. Juli 1919 aus den gleichen Gründen zu schließen. Dieses Vorhaben lehnten die Gemeindevertreter Brunshauptens natürlich nicht nur einstimmig ab, sondern sie beschlossen, Vertreter zu Gesprächen mit den Landtagsabgeordneten Asch und Kröger nach Rostock zu senden, um gegen diese Einschränkungen zu protestieren. Am 15. März 1919 richteten die Gemeindevorstände Brunshauptens und Arendsees gemeinsam ein Gesuch an das Mecklenburgische Ministerium des Innern mit der gehorsamen Anfrage, „ob es möglich sein wird, damit zu rechnen, dass in der bevorstehenden Kurzeit 1919 unseren Kurgästen, Rekonvaleszenten und Kriegserholungsbedürftigen diejenigen Lebensmittel hier im Lande verabfolgt werden können, welche ihnen im Reiche auf ihre Lebensmittelkarten zustehen?“ An anderer Stelle ist zu lesen „Wir denken dabei in erster Linie an diejenigen Lebensmittel, welche nicht auf Reichskarten bezogen werden, als a) Grütze, Graupen, Grieß, Mehl, Zucker, Fett etc., b) See- und Süßwasserfische, Fischkonserven, Räucherwaren und c) Trocken- und Dosengemüse, Früchte etc., wie sie bisher gegeben wurden.“ Gleichzeitig baten die Gemeindevorstände auch um die Bereitstellung der oben genannten Lebensmittel für die im Badewesen tätigen Personen wie Post- und Eisenbahnbeamte, selbstständige Gewerbetreibende, Angestellte der Badeverwaltungen, der Hotels, Pensionen, Privathäuser und der Kaufgeschäfte sowie für Handwerker, von denen bis 15. April 1919 bereits 2000 Personen in den beiden Badeorten tätig waren. Gesuch an die Landesregierung: Das Schreiben endete mit den Worten: „Wir richten unser Gesuch an unsere vorgesetzten zuständigen Landesbehörden deshalb, weil wir in Not sind, weil wir Hilfe haben müssen, weil wir nicht wissen, wie wir auf gesetzlichem Wege allein uns helfen sollen, weil wir niemand anderen haben, der imstande sein könnte, uns mit Erfolg zu helfen. Wir hoffen und vertrauen, dass unsere wahren Darstellungen wirken und ein geneigtes Ohr finden mögen.“ Am Donnerstag, dem 17. April 1919, fand auf Anordnung des Mecklenburg-Schwerinschen Ministeriums des Innern und der Landesbehörde für Volksernährung zu Schwerin im Gebäude der Kreisbehörde Rostock eine beschließende Versammlung über die geplante Beschränkung beziehungsweise Freigabe des diesjährigen Badeverkehrs statt. Ortsfremde ohne Quartiere: Das Resultat der Beratung ist im Regierungsblatt Nr. 72 des Mecklenburg-Schwerinschen Ministerium vom 29. April 1919 nachzulesen. Es heißt im Paragraf 1 der Bekanntmachung vom 19. April 1919, betreffende Regelung des Fremdenverkehrs: „Ortsfremde Personen dürfen in Heilbädern, Kurorten und Erholungsplätzen sowie in solchen Orten, die weniger als 6000 Einwohner zählen, zu Kur-, Erholungs- und Vergnügungszwecken a) bis auf weiteres keinen Aufenthalt nehmen und auch nicht beherbergt werden, b) von einem festzusetzenden Zeitpunkt ab nicht länger als vier Wochen Aufenthalt nehmen und beherbergt werden. Nach Ablauf der vier Wochen darf der Aufenthalt an einem anderen Ort nicht fortgesetzt werden.“ Nach Paragraf 2 handelte es sich um unentgeltlich beherbergte Großstadtkinder, die zur Erholung in die Badeorte entsandt worden waren, und Personen, die aufgrund eines ärztlichen Attestes und auf Kosten der Krankenkassen hier kuren sollten; sie waren nicht betroffen. Einer mit einer Schreibmaschine erstellten Abschrift aus dem Regierungsblatt ist zu entnehmen, dass die Dauer des Aufenthaltes von ortsfremden Personen in den Bädern einzuschränken und herabzusetzen ist, wenn anders eine regelmäßige Erfüllung der Ablieferungspflicht oder eine vorschriftsmäßige Versorgung der einheimischen Bevölkerung mit Lebensmitteln nicht zu gewährleisten sei. Nur mit Genehmigung der Polizei: In Paragraf 4 der Bekanntmachung wurde das nochmals präzisiert: „In den in Paragraf 1 bezeichneten Orten dürfen ortsfremde Personen in Privathäusern gegen Entgelt nur mit jeder Zeit widerruflichen Genehmigung der Polizeibehörde beherbergt werden. Soweit Selbstversorger als Vermieter in Betracht kommen, kann die Genehmigung grundsätzlich versagt werden, sie muss versagt oder zurückgenommen werden, sofern der Vermieter seiner Ablieferungspflicht in Bezug auf Lebensmittel gegenüber dem Kommunalverband nicht oder nicht vollständig nachkommt.“ Zu den Selbstversorgern zählten die Besitzer bäuerlicher Wirtschaften, die auf diese Art und Weise zur Erfüllung ihrer Ablieferungspflicht angehalten wurden. Am 11. September 1916 veröffentlichte der Ostsee-Bote eine Episode aus Brunshaupten zum Thema Schleichhandel. „Dass in unserer gesegneten Gegend noch immer Lebensmittel zu haben sind, beweist ein Vorfall, der sich auf dem Bahnhof von Doberan zutrug. Eine von hier kommende Dame ließ sich dort ihre ängstlich behütete große Hutschachtel an den Zug bringen. Dem Gepäckträger fiel das Gewicht derselben auf und meldete seinen Verdacht dem Stationsvorsteher. Trotz vielen Bittens wurde nun die inhaltschwere Schachtel untersucht, wobei dem Beamten einige Pfund der schönsten Butter, mehrere Pfund Schinken und sogar einige der jetzt so seltenen geräucherten Mettwürste entgegen prangten, welche nun zum größten Schmerze der Dame beschlagnahmt wurden. Über Herkunft und Preise wird sich die Betroffene wohl nicht geäußert haben, da sie ohne Überschreitung der Höchstpreise die appetitlichen Sachen wohl nicht bekommen hätte. Trotz der behördlichen Strafandrohungen wegen Überschreitung der Höchstpreise werden hier und in der Umgegend noch die märchenhaftesten Preise bezahlt. Von den Kurgästen werden für ein Ei 40 bis 50 Pfennige geboten und für Schinken sogar sechs bis sieben Mark für das Pfund bezahlt.“ In diesem Regierungsblatt wurden erstmalig die Kommunalverbände ermächtigt, eigenständig die Höchstzahl ortsfremder Personen zu bestimmen, die in den einzelnen Verkehrsorten oder Gaststätten beherbergt werden durften. Das Ministerium des Innern untersagte den Inhabern von Gaststätten, allen Kurverwaltungen, den Gemeindevertretungen und den Fremdenverkehrsvereinen, in Tageszeitungen, Zeitschriften oder öffentlichen Aushängen für einen Aufenthalt in den Badeorten zu werben. Schleichhandel wurde bekämpft: Wie angespannt die Versorgungslage der Bevölkerung mit Lebensmitteln auch noch im Jahr 1920 war und wie die Behörden versuchten, Schleichhandel und unerlaubte Hamsterei zu bekämpfen, wird aus einem weiteren Schreiben des Mecklenburg-Schwerinschen Ministeriums des Innern an den Brunshauptener Ortsvorsteher Carl Risch vom 24. Februar 1920 ersichtlich. Hier heißt es wörtlich: „Verhindert werden muss, dass die Badegäste den Aufenthalt in Mecklenburg-Schwerin zum Hamstern nutzen. Über die geeignet erscheinenden Mittel erwartet das unterzeichnete Ministerium Vorschläge der Gemeindeverwaltungen der Badeorte beziehungsweise des Verbandes Mecklenburgischer Ostseebäder. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die gehamsterten Lebensmittel oft nicht von dem Badeorte selbst, sondern von benachbarten Orten aus versandt werden. In dem Bestreben, die Hamsterei zu unterdrücken, müssen sämtliche Behörden zusammenwirken. Personen, welche Fremde beherbergen, müssen ebenfalls bei Verhinderung der Hamsterei mitarbeiten. Sollte das unterzeichnete Ministerium sich in dem Vertrauen, dass in dieser Beziehung in diesen Personen und örtlichen Behörden selbst, getäuscht sehen, so wird es scharfe Bestimmungen, welche eine erhebliche Einschränkung des Badeverkehrs zur Folge haben würden, erlassen müssen.“ Für das Jahr 1920 fanden sich keine weiteren Aufzeichnungen, so dass auf eine relative Stabilisierung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln geschlossen werden darf. 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