Aus MV zur Tour de France: Radrennfahrer Jens Voigt macht Dassow bekannt

Die Stadt Dassow ohne Radsport? Schwer vorstellbar für alle, die sich für Sport interessieren. Die Radrenner haben die Stepenitzstadt mit ihren Erfolgen auf nationaler und internationaler Ebene bekannt gemacht. Auf einer Anstecknadel mit dem Jahresdatum 1893 ist erstmals bereits ein Dassower Radfahrverein vermerkt. Was es wirklich damit auf sich hatte und wie aktiv er war, ist nicht bekannt und lässt sich heute kaum noch feststellen. Sicher ist dagegen, dass der Beginn des aktiven Radsports in Dassow eng mit dem Namen Heinrich Jürgensen in Verbindung steht. Er war schon in den 1930er-Jahren ein erfolgreicher Radrenner. Nach dem Krieg zog er von Lübeck in die mecklenburgische Stadt an der Stepenitz. Zusammen mit einem gewissen Herrn Pfeiffer, Besitzer einer Fahrrad- und Moped-Reparatur-Werkstatt, gründete er 1954 im Verein Traktor Dassow die Abteilung Radsport. Jürgensen war nicht nur Abteilungsleiter, sondern auch der erste, der eine Gruppe Jugendlicher trainierte. Und Peter Schmidt von Dassow-Ausbau fuhr dann Mitte der 1950er-Jahre die ersten Erfolge ein. Richtig Fahrt nahm der Sport auf zwei Rädern in Dassow dann in den 1960er-Jahren mit Sportlern wie Detlef Kletzin, Hans-Joachim Schippel und Ingo Eichberg auf. Letzterer war über die Kleine Friedensfahrt zum Radsport gekommen. „Das hatte mich interessiert. Ich wollte unbedingt dabei sein“, so der heute 69-jährige Abteilungsleiter beim SV Dassow 24. Die drei dominierten in ihren Altersklassen. Eichberg wurde zuerst Bezirksmeister auf der Straße in der Jugend und dann bei den Junioren. Außerdem gewann er unter anderem 1969 das DDR-offene Straßenrennen in Güstrow, Schippel kam dort zwei Plätze hinter ihm als Dritter ins Ziel. Außerdem siegte Kletzin bei den Männerfahrern. Die Erfolge in den 1960er-Jahren führten dazu, dass die Abteilung Radsport Trainingszentrum wurde. Verbunden war damit eine staatliche Unterstützung. Außerdem gingen die besten Radrenner zu den Hochleitungszentren TSC Berlin oder Frankfurt/Oder, wo es auch Kletzin und Schippel hinzog. Kletzin wurde später fünf Mal DDR-Meister, Schippel war noch als Seniorenfahrer erfolgreich, konnte sich zwei Mal sogar das WM-Trikot überstreifen. Hauptamtlicher Trainer Hans-Jürgen Eichberg: In den 1980er-Jahren bekam Dassow dann mit Hans-Jürgen Eichberg einen hauptamtlichen Trainer. Außerdem wurden Stellen für Übungsleiter und Materialwart geschaffen. An Radmaterial oder Bekleidung mangelte es ebenfalls kaum. Die Dassower waren dank finanzieller Unterstützung des Staates gut aufgestellt und spielten nach wie vor eine gute Rolle im DDR-Radsport. Der Dassower Mathias Weiss und der Schönberger André Kalfack errangen sogar Meisterschaften, Kalfack wurde nach der Wende auch noch Deutscher Meister auf der Bahn. 30 Sportler gingen von Dassow aus zum Sportclub oder auf das Sportgymnasium, wo sie ihre Laufbahn fortsetzten, 14 von ihnen standen bei nationalen und internationalen Titelkämpfen auf dem Treppchen. Sie gewannen von 1971 bis 2020 insgesamt 30 DDR- und DM-Titel sowie sieben EM- und acht WM-Titel. Quasi als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung musste der Verein aus Dassow jedes Jahr einen Sportler zum TSC Berlin delegieren. Harte Auswahlkriterien waren dafür zu erfüllen. Einigen Sportler blieb aus politischen Gründen – sie hatten Westverwandtschaft – der Weg dorthin versperrt, andere kamen aufgrund von Heimweh zurück oder schafften es sportlich nicht. Der Start zu einer großen Karriere war nur wenigen vergönnt. Zu ihnen gehörte Jens Voigt, der sich auch Jahr für Jahr neu beweisen und Normen erfüllen musste. Er biss sich durch und feierte zunächst als Amateur internationale Erfolge. 1994 war sein bestes Jahr. Er gewann die Internationale Friedensfahrt und den Weltcup. Weil sich Voigt danach schwer verletzte, wollten ihn die meisten Profivereine nicht verpflichten. Der Dassower musste sogar Bewerbungen schreiben und hatte Erfolg. Das tschechisch-australische Team GIANT nahm ihn 1997 unter Vertrag. Im Jahr darauf wechselte er in die französische Mannschaft GAN und durfte bei seiner ersten Tour-de-France-Teilnahme für einen Tag das Bergtrikot tragen. Es folgten weitere 16 Teilnahmen an der großen Frankreich-Schleife, wo dem Dassower zwei Etappensiege gelangen und er zwei Mal das Gelbe Trikot des Gesamtführenden trug. Voigt stellt Stundenweltrekord auf: Außerdem gewann Voigt 2006 und 2007 die Deutschland-Tour, 2008 die Polen-Rundfahrt und eine Etappe beim Giro d’Italia. Mit zwei Paukenschlägen beendete der Ausreißerkönig, wie er wegen seiner offensiven Fahrweise genannt wurde, seine Karriere. Noch einmal fuhr er bei seiner letzten Tour-de-France-Teilnahme 2014 ins Bergtrikot, womit wie 16 Jahre zuvor niemand rechnete. Und zum finalen Abschluss stellte er im gleichen Jahr auf der Bahn im schweizerischen Grenchen mit 51,115 Kilometer einen neuen Stundenweltrekord auf. Für den Dassower, der in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert, endete damit das Kapitel als Profi. In seiner Heimatstadt ist er Ehrenbürger und mit dem Jens-Voigt-Ring wurde auch eine Straße nach ihm benannt. Von Dirk Hoffmann