Lockwisch: Die geheimnisvolle Radarstation der Russen

So wie die Russen gekommen waren, verschwanden sie auch wieder: über Nacht. „Wir waren traurig, dass sie plötzlich weg waren, ohne dass wir uns verabschieden konnten“, erzählt Helga Roocks. Sie war Bürgermeisterin in Lockwisch in den Jahren vor und nach der Wende. Auf einer Anhöhe hatte die Rote Armee Mitte der 60er Jahre eine Radarstation errichtet. Die Soldaten hinterließen leere Gebäude – wie in vielen anderen Militärstandorten im Osten Deutschlands, die der Rostocker Fotograf Ralf Pageler in einer Ausstellung des Grenzhus in Schlagsdorf zeigt. Helga Roocks ist 79 Jahre alt. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in Lockwisch, als sie erzählt, was Einwohner der Gemeinde vor dreieinhalb Jahrzehnten erstaunen ließ. Arbeiter bauten eine Straße von Hof Lockwisch nach Dorf Lockwisch. Die Menschen in den Orten freuten sich. Erst später wurde ihnen klar, warum die Straße gebaut wurde. Grund für Straßenbau verheimlicht: „Sie musste fertig sein, damit die Russen mit ihrer Technik hochkamen“, erklärt Helga Roocks. Dann sagt sie: „Wir als normale Bürger haben es nicht gewusst. Wir wurden nicht davon in Kenntnis gesetzt.“ Zuerst fuhr die Rote Armee mit Radarwagen und Panzer zur Anhöhe nahe Dorf Lockwisch. Wenig später baute sie eine Baracke für die einfachen Soldaten und eine weitere für die Offiziere, die dort mit Frauen und kleinen Kindern wohnten. Helga Roocks erzählt: „Wenn die Kinder ins schulpflichtige Alter kamen, wurden die Familien nach Schwerin versetzt.“ Dort war die nächste russische Schule. Die einfachen Soldaten wurden alle fünf Jahre ersetzt. Es waren durchweg junge Männer. In der Mannschaftsunterkunft hatte jeder ein Bett und einen Stuhl, mehr nicht. Manchmal halfen Soldaten bei der LPG. Sie legten auch mit Hand an, als Arbeiter einen Bürgersteig bauten. Danach konnten die Frauen der Offiziere ohne Probleme mit dem Kinderwagen durch den Ort spazieren. Lesen Sie auch: Lost Places bei Rostock und in MV: Unterwegs im NVA-Bunker Lost Places für Einsteiger in MV Dreimal im Jahr stellten die Russen auf einem Flur Tische zusammen. An einer langen Tafel feierten sie mit Deutschen. „Die Familien haben uns bekocht“, erinnert sich Helga Roocks. Als Bürgermeisterin war sie bei vielen Feiern im Lockwischer Kulturhaus dabei. Vertreter von Betrieben, Partei und gesellschaftlichen Organisationen trafen sich mit den Russen im Zeichen der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Soldaten und Offiziere sangen und spielten Lieder. Sie machten gerne Musik. Betriebe legten Geld zusammen, um den russischen Freunden Instrumente zu kaufen. Radartechnik in Richtung Osten abtransportiert: 1990 verließen die Sowjets Lockwisch. Sie schafften die Technik fort in Richtung Osten. Der Kalte Krieg war vorbei. Seit 30 Jahren verfallen die Gebäude immer mehr. Die Radarstation ist zum „Lost Place“ geworden, einem vergessenen, verlorenen Ort, den nur wenige Menschen kennen und noch weniger besuchen. Der Fotograf Ralf Pageler widmet sich sowjetischen Spuren an sechs anderen Militärstandorten. Das Grenzhus in Schlagsdorf präsentiert seine Bilder bis 11. Oktober in einer Sonderausstellung. Ralf Pageler erklärt: „Ich erkannte für mich, dass historische Orte für das Erinnern eine wichtige Rolle spielen.“ Er wolle die Neugier und die Diskussion über die Hinterlassenschaften anfachen: „Sind sie ein wichtiger Teil unserer Geschichte und müssen bewahrt werden? Oder werden sie eines Tages zu Staub zerfallen und vergessen sein?“ Grenzhusleiter Andreas Wagner ist vom Besuch einer sowjetischen Garnison vor allem eines in Erinnerung geblieben: die überwältigende Gastfreundschaft der Offiziere. Der Chef des Informationszentrums zur innerdeutschen Grenze schreibt im Ausstellungskatalog: „Entgegen aller politisch-ideologischen Aufladungen und sicherheitspolitischen Bedenken konnte es im Lebensalltag von DDR-Bürgern zu menschlichen Kontakten mit Angehörigen der sowjetischen Armee kommen, die andere Vorstellungen von den ‚Russen‘ ermöglichten, weit ab von den offiziellen Heldenbildern der Befreier.“ Helga Roocks erinnert sich gerne an die Zeit mit den Russen. Probleme gab es kaum. „Wir hatten hier im Ort ein gutes Zusammenleben.“ Über den Autor Lesen Sie auch Vor 75 Jahren: Als viele Mecklenburger ihre Heimat verloren Neues NVA-Museum auf Rügen: Historische Panzer, Fahrzeuge und Flugzeuge Noch immer kein Gedenken an Leichen aus Greifswalder Anatomie möglich Lost Places bei Rostock und in MV: Unterwegs im NVA-Bunker Lost Places für Einsteiger in MV Von Jürgen Lenz