Vor 75 Jahren: Als viele Mecklenburger ihre Heimat verloren

Gerda Schütt war 17 Jahre alt, als sie ihre Heimat verlor – und ihre Eltern fast alles hinter sich lassen mussten, was sie besaßen. Sie erzählt: „Es waren schreckliche Tage. Am Totensonntag 1945 mittags zogen ich und meine Eltern für immer fort. In der Nacht wurde die neue Grenze gezogen.“ Die russischen und britischen Besatzer tauschten Gebiete zwischen Mecklenburg im Osten und dem heutigen Kreis Herzogtum Lauenburg im Westen. Dadurch waren Mecklenburger zwischen Hohenleuchte und Ziethen plötzlich im Westen. Auf der anderen Seite lag das britisch besetzte Gebiet östlich des Schaalsees von einem Tag auf den anderen in der sowjetischen Besatzungszone. Vertreter der Roten Armee und der Westmächte hatten das vor 75 Jahren ausgehandelt, um die Grenze zu bereinigen. Das Jubiläum ist Anlass für Gedenkveranstaltungen, Schülerprojekte, historische Forschungen und eine Wanderausstellung, die in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gezeigt werden wird. Vertreter der Bundesregierung kommen: Höhepunkt des Veranstaltungsreigens ist eine Festveranstaltung am 13. November am Schloss in Gadebusch (Nordwestmecklenburg). Die Organisatoren erwarten Vertreter der Bundesregierung. Am 13. November 1945 schrieben der britische Generalmajor Colin Muir Barber und der sowjetische Offizier Nikolai Grigorjewitsch Ljaschtschenko in Gadebusch Geschichte. Sie unterzeichneten einen Vertrag, der den künftigen Grenzverlauf regelte und vielen Menschen in Mecklenburg die Heimat nahm. Als Barber-Ljaschtschenko-Abkommen ist die Abmachung zwischen Ost und West heute bekannt. „Ausgehandelt wurde der Vertrag im Schloss, unterzeichnet aber im Goldenen Löwen“, erläutert Klaus Leuchtemann. Der 65-Jährige leitet ein besonderes Projekt: Stelen in den Orten, die vom Gebietsaustausch betroffen waren und deren Geschichte nach 1945 ganz anders verlaufen wäre, hätte es das Barber-Ljaschtschenko-Abkommen nicht gegeben. Vier Säulen mit Informationen und Fotos stehen bereits in Lassahn, je eine weitere in Klein Thurow, Groß Thurow, Dechow, Bäk, Römnitz, Mechow, Ziethen und am Grenzhus in Schlagsdorf. „Wir wollen noch eine Stele in der Gemarkung Lankow aufstellen“, kündigt Klaus Leuchtemann an. Das Dorf Lankow existiert nicht mehr. Viele Bewohner mussten den Ort 1952 verlassen. Die DDR-Regierung ließ sie in weiter östlich gelegene Gebiete umsiedeln. 1976 sorgte der Staat dafür, dass die letzten Häuser dem Erdboden gleich gemacht werden. Ab diesem Jahr bis 1990 durchzogen Grenzsperranlagen den Lankower See. Auch darüber informiert das Projekt, das Klaus Leuchtemann ehrenamtlich leitet. Träger ist die Stadt Gadebusch. Das Bundeslandwirtschaftsministerium zahlt einen Zuschuss. Problem: Mecklenburger Exklaven im Lauenburgischen: Am 1. Juli 1945 hatte die Grenze zwischen Ost und West noch einen anderen Verlauf als Ende November desselben Jahres. Zunächst bildete die alte Trennlinie zwischen Mecklenburg und der preußischen Provinz Schleswig-Holstein die Grenze zwischen sowjetischer und britischer Besatzungszone. Bald wurde aber klar: Das kann so nicht bleiben. Ziethen, Mechow, Bäk und Römnitz gehörten zum mecklenburgischen Landkreis Schönberg, waren aber als Exklaven von lauenburgischem Gebiet umschlossen. Problem Nummer zwei: Die Briten konnten ihre Gebiete östlich des Schaalsees nur schwer erreichen. Deshalb vereinbarten Ost und West den Gebietsaustausch. Gerda Schütt wohnte damals in Klein Thurow, einem Dorf, das zunächst zur britischen Besatzungszone gehörte. In ihr Elternhaus zogen US-amerikanische Offiziere. Sie kündigten an, dass bald Briten das Gebiet besetzen und „dann kommt der Russe.“ Gerda Schütt erzählt: „Wir haben es nicht geglaubt.“ Das war an Pfingsten 1945. Kleines Dorf war halb russisch, halb britisch: Wenig später zogen die Amerikaner fort. Am 30. Juni 1945 kamen die Briten ins Dorf. Zehn Soldaten wohnten in Gerda Schütts Elternhaus. Am 1. Juli 1945 besetzten Russen ein anderes Haus in Klein Thurow. Gerda Schütt erklärt: „Da Klein Thurow schon immer halb zu Mecklenburg und halb zum Kreis Herzogtum Lauenburg gehörte, war es nun halb russisch, halb englisch.“ Tag und Nacht schoben Soldaten an der Grenze Wache, Russen wie auch Engländer. So ging es drei Monate. Dann zogen die Briten weg und kamen nur noch alle drei Stunden zur Kontrolle, erinnert sich Gerda Schütt. Die Rotarmisten patrouillierten weiter wie bisher. Dann kam der 13. November 1945. Gerda Schütt berichtet: „In aller Frühe bekamen meine Eltern Bescheid, dass das Gebiet russisch würde. Es war ein großer Schock für die Bewohner von Klein Thurow.“ Sie durften in der Heimat bleiben, mussten aber das Vieh und die Maschinen an die Briten abgeben – bis auf ein Pferd, eine Kuh und etwas Verpflegung für Menschen und Tiere. Gerda Schütt erzählt: „Mit dieser Bedingung wollte keiner, bis auf ein Rentnerehepaar, dort bleiben.“ Evakuierung war Ende November beendet: Gerda Schütts Vater entschied sich schweren Herzens zu gehen. Seine Frau fragte bei Bekannten im lauenburgischen Mustin, ob die Familie dorthin ziehen könnte. Ja, sie durfte. Die Familie verließ den Hof in Klein Thurow, auf dem ihre Vorfahren viele Generationen gelebt hatten. Die Besatzer erlaubten den Einwohnern aller Dörfer östlich des Schaalsees, in die britische Zone umzusiedeln. Menschen zogen mit ihrem Hab und Gut über die Landstraße nach Mustin. Eine deutsche „Evakuierungskommission“ sorgte dafür, dass keine Gegenstände von Wert zurückblieben. Ende November war die Evakuierung beendet. Aus dem Zuhause vieler Familien wurden leere Häuser, von Plünderern verwüstet. Neue Bewohner in Dechow: 40 Familien aus dem Sudetenland: Eberhard Specht informiert im Buch „Familiengeschichte des Kirchspiels Carlow-Demern“: „Nach Dechow kamen am 10. Dezember 1945 neue Bewohner: 40 Familien mit insgesamt 100 Personen. Ein zweiter Transport erfolgte am 6. Januar 1946.“ Die Neu-Dechower waren „Umsiedler“, wie die DDR die Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten nannte. Sie stammten aus dem Sudetenland. „Dechow gehörte um diese Zeit zunächst zum Kreis Schönberg“, erläutert Eberhard Specht in dem Buch, das der Schönberger Heimatbund für das Fürstentum Ratzeburger herausgegeben hat. 1952 ordneten die Behörden die Gemeinde Dechow dem Kreis Gadebusch zu – und damit dem Bezirk Schwerin. „Dieser Gebietsaustausch hatte kurz- und langfristige Folgen für die Menschen“, sagt Andreas Wagner, Leiter des Grenzhus in Schlagsdorf. Nach seiner Auskunft wird die Geschichte des Gebietsaustausches von 1945 und dessen Folgen für die Menschen in Mecklenburg und Schleswig-Holstein in einer Wanderausstellung erzählt werden. „Das Grenzhus in Schlagsdorf ist an der Erarbeitung der Wanderausstellung beteiligt“, erklärt der Leiter des Informationszentrums zur innerdeutschen Grenze. Bereits zutage trat die Geschichte von Jochen Friedrich, geboren 1931 in Schlesien. Seine Familie flüchtete nach Westmecklenburg. Am 2. Januar 1946 zog sie nach Hakendorf, in eines der leer stehenden Häuser. Andreas Wagner sagt: „Er hat uns seine Erinnerungen erzählt und würde sich über einen Kontakt zu Alt-Hakendorfern, die im November 1945 das Dorf verlassen haben, freuen.“ Das Grenzhus in Schlagsdorf (Nordwestmecklenburg) ist das größte Museum in Mecklenburg-Vorpommern, das an die Teilung Deutschlands und die Folgen für die Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs erinnert. Das Informationszentrum dokumentiert, erforscht und vermittelt die Geschichte der innerdeutschen Grenze zwischen Ostsee und Elbe von 1945 bis 1990. Es unterscheidet sich von anderen Grenzmuseen durch einen konsequenten regionalen Bezug. Ein weiteres wichtiges Thema ist der Wandel der Natur vom Todesstreifen zum Grünen Band. Im August 2018 öffnete im neu gestalteten Grenzhus eine multimediale Dauerausstellung. Seitdem ist das Haus barrierefrei. Auf einem Außengelände können die Besucher Teile der DDR-Grenzanlagen besichtigen. Die Mitarbeiter organisieren Seminare, Lesungen, Führungen, Diskussionen und Filmvorstellungen. Geöffnet ist das Grenzhus im Neubauernweg 1 montags bis freitags von 10 Uhr bis 16.30 Uhr sowie sonnabends und montags von 10 bis 18 Uhr. Eintrittspreis: vier Euro, Schüler, Studenten und Menschen mit Behindertenausweis drei Euro. Kontakt: Telefon 038 875 / 203 26, E-Mail info@grenzhus.de. Anfang dieses Jahres besuchten Mitarbeiter des Grenzhus zusammen mit Jochen Friedrich den Ort. Das Dorf im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim wurde in den 1970er-Jahren teilweise abgerissen, um den DDR-Grenzanlagen Platz zu machen. „Es war schwierig, sich zu orientieren, aber Herr Friedrich fand sich erstaunlich schnell zurecht“, berichtet Andreas Wagner. Die Wanderausstellung zum Jubiläum „75 Jahre Barber-Ljaschtschenko-Abkommen“ wird zuerst in Gadebusch gezeigt, dann in Schlagsdorf, Zarrentin (Landkreis Ludwigslust-Parchim) und schließlich in Ratzeburg. Über ein Jahr recherchiert: Von menschlichen Schicksalen handeln auch Berichte, die in Dechow mit einem Smartphone abgerufen werden können. Sie stehen beispielhaft für alle Familien, die das Dorf im November 1945 verließen. Zu finden sind die Berichte per QR-Codes auf kleinen Stahlrohren, die vor vielen Häusern stehen. „Wir haben 20 Edelstahlrohre mit QR-Code aufgestellt“, erläutert Udo Wachtel. Er leitet in seinem Heimatdorf das gemeinsame Projekt der Gemeinde und ihres Fördervereins. Er berichtet: „Wir haben über ein Jahr recherchiert.“ Informationen und Berichte sind auch im Internet zu finden unter http://b-l.dorf-dechow.de/. Udo Wachtel steht vor dem Dorfgemeinschaftshaus in Dechow, als er sagt: „Hier wohnte genau auf der anderen Straßenseite der damalige Nachtwächter, Herr Voß. Früh am Morgen weckte er am 15. November 1945 alle Bewohner und erklärte, dass die Männer um 8 Uhr ins Gasthaus Isernhagen kommen sollten.“ Dort warteten der Bürgermeister, der Landrat und britische Offiziere. In Dechow geblieben sind nach Udo Wachtels Auskunft nur zwei Familien, der Kaufmann Ernst Frost und der Kleinbauer Hans Relling. Alle anderen wurden Flüchtlinge. Udo Wachtel sagt: „Geschichte, so oder so ähnlich, wiederholt sich, leider muss man sagen, bis in unser 21. Jahrhundert und das Rad der Geschichte dreht sich weiter.“ Über den Autor Lesen Sie auch Geschichte mit Abstand: So arbeitet das Grenzhus in Schlagsdorf in Corona-Zeiten Lankow: Fotografin lässt Bewohner des Grenzdorfes auferstehen Einnahmen weggebrochen: Grenzmuseum in Schlagsdorf hofft auf Hilfe Von Jürgen Lenz