Denksteine: Stadtplan mit Geschichten von 63 getöteten Rostocker Juden

Im Rostocker Max-Samuel-Haus stapelt sich Geschichte: Graue Archivboxen lagern in Holzregalen. Gefüllt sind sie mit den Fotos, Briefen, Zeitungsausschnitten, amtlichen Dokumenten, Notizen. Im kommenden Jahr werden all diese Unterlagen aufmerksam studiert, denn die Stiftung arbeitet an einem Plan. Einem Stadtplan. Am Holztisch vor dem Regal haben sich Jan-Peter Schulze und Steffi Katschke zusammengesetzt. Der Vereinsvorsitzende und die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Samuel-Hauses besprechen ihr Projekt: Im kommenden Jahr wollen die Freunde und Förderer des Vereins 2 000 Stadtpläne drucken und kostenlos verteilen lassen. Darauf sollen alle Denksteine verzeichnet werden, die der Verein seit 2001 vor Häusern in Rostock verlegt hat. In diesen Häusern haben bis in die 1940er Jahren jüdische Familien gewohnt. Die Steine erinnern an diejenigen unter ihnen, die während des Nationalsozialismus gewaltsam ums Leben kamen. Stadtplan mit Fotos und Biografien entsteht: Ein erster Entwurf des Stadtplans liegt ausgebreitet vor den Wissenschaftlern. Er enthält neben den Markierungen für die Steine auch jeweils ein Porträt und eine kurze Biografie der Verstorbenen. Neben dem Plan stapeln sich Abzüge alter Schwarz-Weiß-Fotografien. Zu allen können Schulze und Katschke berichten, als würden sie Aufnahmen ihrer eigenen Familien betrachten. Etwa zu Marie Bloch. „Erst neulich war ich bei ihr und habe nach dem Rechten gesehen“, erzählt Steffi Katschke, als hätte sie eine Verwandte besucht. Die Vorstandsmitglieder haben die Steine unter sich aufgeteilt und schauen regelmäßig nach Beschädigungen. Der Stein von Marie Bloch liegt in der Paulstraße vor dem Haus Nummer 7. Die Gründerin eines Kindergartens galt in den 1920er Jahren als modernste Reformpädagogin Mecklenburgs. 1944 starb sie im Konzentrationslager Theresienstadt an Typhus. „Diese Leben sind vom bitteren Ende geprägt“: Auch das Bild von Ruth Zuckermann liegt auf dem Tisch: Das junge Mädchen ließ sich gemeinsam mit ihrer Mutter Perle 1942 von einem Fotografen ablichten. Nur wenig später wurden sie ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Beide starben dort. Erst in den 1980er Jahren erfuhr Alfred Zuckermann, der mittlerweile als angesehener Historiker in Israel lebte, durch einen Zeitungsartikel des Rostocker Forschers Frank Schröder vom Schicksal seiner Mutter und Schwester. Noch zu DDR-Zeiten besuchte er seine alte Heimat und ab dann regelmäßig. Er wurde schließlich Gründungsmitglied des Max-Samuel-Hauses, der erste Ehrenbürger Rostocks nach dem Mauerfall und erhielt später die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock. Die Denksteine für Ruth und Perle Zuckermann befinden sich in der Altschmiedestraße vor dem Haus Nummer 26. In ganz Rostock sind es 63. Wenn alle Schicksale erforscht sind, werden es um die 90 Denksteine sein. Und hinter jedem Stein steckt eine Biografie. „Diese Leben sind zwar vom bitteren Ende geprägt“, sagt Steffi Katschke, „aber natürlich gab es ein Leben davor. Es waren Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften, wie bei jedem von uns.“ „Geschichten von Menschen aus Rostock“: Es berühre die Besucher des Hauses, etwa die vielen Schüler, die regelmäßig kommen, wenn sie Fotos sehen und Anekdoten hören, so Katschke. „Die einzelnen Menschen treten aus der Masse heraus, wenn man sie ansieht, ihren Namen und ihre Geschichte kennt“, ergänzt Jan-Peter Schulze. „Es geht nicht um Opfergeschichten, sondern um Geschichten von Menschen aus Rostock.“ Und genau das wollen die Freunde und Förderer des Max-Samuel-Hauses mit dem Faltblatt zeigen. Nun sucht der Verein nach Autoren, die ihn beim Verfassen der kurzen Biografien unterstützen. Jan-Peter Schulze hat ein Muster angefertigt. Dafür diente ihm der Lebenslauf Richard Siegmanns. Dessen Denkstein liegt vor dem Rostocker Rathaus. Schulze hatte vor einigen Jahren ein ganzes Buch über den ehemaligen Direktor der RSAG verfasst. Derart üppig sind die Informationen zwar nicht in jedem Fall, doch wenn es einen Denkstein gibt, liegen ausreichend Lebensdaten für einen Text vor – gesammelt in den grauen Archivboxen. Ohne diese unscheinbaren Kisten wären all die Namen längst im Rostocker Geschichtsbewusstsein erloschen. Wer das Projekt unterstützen möchte, kann auf zwei Arten helfen: Als Autor von Texten für das Faltblatt. Hierbei werden ausführliche Fakten und Daten zur Verfügung gestellt. Diese gilt es zu kürzen und gut lesbar aufzuschreiben. Oder als Spender für die Druckkosten und Grafikarbeiten. Weitere Informationen: Max-Samuel-Haus, Schillerplatz 10, 18055 RostockTelefon: 0381 - 492 32 09, E-Mail: info@max-samuel-haus.de Mehr lesen: Nach Anschlag von Halle Gespräche mit Jüdischen Gemeinden in MV Antisemitische Straftaten in MV nehmen dramatisch zu Was die jüdische Gemeinde in Rostock so besonders macht Mehr zur Autorin Von Juliane Schultz