Einzelhändler in MV vor dem Aus: „Was jetzt passiert, ist ein Alptraum“

Bei den Einzelhändlern in Mecklenburg-Vorpommern wächst die Wut über die drohende Verlängerung des Lockdowns. „Die Situation ist dramatisch“, sagt der Betreiber von drei Bekleidungsgeschäften in Binz, Ulf Dohrmann. „Die Gastronomen bekommen mit 75 Prozent ihres weggebrochenen Umsatzes eine Entschädigung, aber uns hat man voll vergessen.“ Der Handel fordert unter #handelhaeltzusammen die zeitnahe Wiedereröffnung der Läden. Die angebotenen Entschädigungen der Überbrückungshilfe III seien willkürlich, ungerecht und völlig unzureichend. „Die Hilfen kompensieren nicht annähernd die Verluste im Schließungszeitraum und sind lediglich ein Ersatz für einen kleinen Teil der Betriebskosten“, sagt Diane Nikolaus, Geschäftsführerin von sieben Textilgeschäften in Rostock. Händler formieren zivilen Ungehorsam: Über Telegram organisiert sich seit dem Wochenende die Bewegung „Wir machen auf – Kein Lockdown mehr”, die dazu aufruft, trotz der absehbaren Verlängerung des Lockdowns Läden und Restaurants ab dem 11. Januar wieder zu öffnen. Fast 45 000 Abonnenten haben sich bereits bundesweit in dem Kanal organisiert. „Gewerbetreiber, Gastro, Einzelhandel, Kosmetik, Friseur ... Ab dem 11. Januar öffne ich die Türen“, heißt es dort. Gruppenmitglieder appellieren an die Verbraucher, die vom Lockdown betroffenen Wirte, Friseure und Kosmetikstudios anzurufen, um Termine und Plätze zu reservieren. Als Rechtsbeistand ist unter anderem Ralf Ludwig benannt, der zum Umfeld der Querdenker-Bewegung gehört. Verständnis für Frust auch in MV – Handel fordert Entschädigung: „Menschlich kann ich diesen Hilfeschrei verstehen“, sagt der Binzer Einzelhändler Dohrmann, der als CDU-Mitglied in der Gemeindevertretung des Ostseebades aktiv ist. „Aber als Kommunalpolitiker habe ich eine Vorbildfunktion.“ Über das Gesetz stellen werde er sich nicht, betont er. Stattdessen übt er scharfe Kritik am Einzelhandelsverband. Dem Dehoga sei es gelungen, die Interessen der Gastronomen bei den Überbrückungshilfen durchzusetzen. Die Lobbyarbeit des Einzelhandelsverbandes für die Händler dagegen sei schlecht. „Die Gastronomen erhalten Umsatzausfall. Bei uns passiert nichts.“ Ähnlich argumentiert auch Diane Nikolaus. Läden trotz angeordneter Schließung zu öffnen, sei nicht der richtige Weg, sagt sie. Wie die Gastronomen erwarten die Einzelhändler aber eine angemessene Entschädigung, die ihnen hilft, den Lockdown zu überbrücken. „Mit den versprochenen Zuschüssen zu den Fixkosten werden die Händler nicht überleben können“, so die Rostocker Geschäftsfrau. Bei null Umsätzen werde es immer schwieriger, den Eigenanteil für die Fixkosten, wie Miete und Versicherungen, aufzubringen. Das gesamte Kapital sei durch den ersten Lockdown aufgeschmolzen. „Das Kapital hängt in der Ware drin.“ „Ich kann mir nur die Todesarten aussuchen“: Hermann Jesske, Inhaber von zwei großen Textilgeschäften in Stralsund und Greifswald und Arbeitgeber von 70 Mitarbeitern, beschreibt die Lage als existenzbedrohend. Die Wintermode hänge in geschlossenen Läden, die Frühjahrsmode sei geordert. Unklar sei, ob sie wegen des Lockdowns verkauft werden könne. „Wir müssen jetzt bereits für Herbst/Winter 2021 ordern. Das sind Millionenbeträge“, so Jesske. Ordere er nicht, habe er im Herbst keine Ware. Ordere er und es komme ein weiterer Lockdown, bleibe er auf den Waren sitzen. „Ich kann mir derzeit nur die Todesarten aussuchen.“ „Kommunen müssen aufwachen“: Nach Angaben des Handelsverbandes gibt es in Mecklenburg-Vorpommern 14 000 Geschäfte. Bereits im Dezember hatte der Verband vor einer Pleitewelle gewarnt. „Gesundheitspolitisch ist eine Verlängerung des Lockdowns nachvollziehbar“, sagt Kay-Uwe Teetz, Geschäftsführer des Handelsverbandes in Mecklenburg-Vorpommern. Aber ob dieser mit dem Handel die Richtigen trifft, bezweifelt er. Mehr lesen: Stufenmodell und Plexiglas im Unterricht: Wie es für Schulen in MV im Lockdown weitergeht Nach Corona: So will MV 2021 als erstes Bundesland wieder Urlauber begrüßen „Was uns an den politischen Entscheidungen stört, sind die fehlenden wirklich wirksamen Wirtschaftshilfen für den Handel.“ Neben der Bundespolitik müssten aber vor allem die Kommunen aufwachen, so Teetz. Er vermisse wirkliche Perspektiven für die Innenstädte.“ Der Binzer Ulf Dohrmann, der elf Mitarbeiter beschäftigt, schätzt, dass 25 bis 30 Prozent der Läden den Lockdown nicht überstehen werden. „Was jetzt passiert, ist ein Alptraum“, so der Händler. Von Martina Rathke