Marx an Hauswand beruhigt Verkehr und beflügelt Denken

Große Köpfe sorgen in kleinen Dörfern bisweilen für Verwirrung. Das macht jetzt wieder Karl Marx im Selpiner Ortsteil Reddershof. Sein Porträt hängt an einer Giebelwand — und gibt im Dorf Anlass zum Tuscheln. Ist das die Fortsetzung des Kampfes um die Tempo-30-Zone, die vor einigen Wochen in der Ortsdurchfahrt von Reddershof gegen den Willen einiger Einwohner und nach einer langen, scharfen Diskussion mit dem Bürgermeister aufgehoben wurde? „Da hat es schon ein paar Vollbremsungen gegeben“, will ein Selpiner beobachtet haben. „Wenn es den Verkehr beruhigt, dann ist mir das auch recht“, sagt Silvia Jais (35), „das ist ein schöner Nebeneffekt.“ Den Hauptzweck sieht die Reddershöferin allerdings anderswo: „Das Porträt ist ein Mahnmal des Irrtums.“ Und jeder, der nun an dem Einfamilienhaus vorüberfährt, „denkt dann über Karl Marx nach“. Vielleicht nicht im Sinne von Silvia Jais, die eben auch weiß, „dass Marx zeitlebens verschuldet war“ — die DDR ihn dennoch auf ihren Hundert-Mark- Schein druckte. „Die haben ihn in der DDR vergöttert.“ Das allerdings mit wenig Recht, wie Silvia Jais findet. Insbesondere nachdem der private Briefwechsel zwischen Marx und Engels öffentlich wurde, in dem sich diese beiden Herren auch als resolute Rassisten und schwere Schwulenhasser zu erkennen geben. „Marx hat außerdem nie Marxist sein wollen“, genau das habe die DDR gewusst und Marx und Engels nie als Menschen sehen wollen. Nun soll das Marx-Bild in Reddershof auch dafür sorgen, „dass sich die nächsten Generationen nicht blöd machen lassen“, sagt die studierte Psychologin. „Wenn es den Verkehr ohne irgendwelche Sanktionen in Reddershof beruhigt und gleichzeitig das Denken der Bürger beflügelt, ist es doch gar nicht schlecht“, so kommentierte gestern Selpins Bürgermeister Mario Ruhm das Bild des Denkers am Hause Jais‘. „Immerhin ist Marx ein anerkannter Wirtschaftswissenschaftler“, so der Bürgermeister weiter. „Ich freue mich, wenn es Menschen mit Ideen in unserem Dorf gibt, schließlich soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden. „Als Selpiner können wir uns ein solches Porträt leisten“, fügte Ruhm lachend hinzu. „Tessin hat ja schließlich auch eine Karl-Marx-Straße.“ Das Marx-Bildnis ist in Reddershof nicht zum ersten Mal zu sehen. „Die Idee ist schon zehn Jahre alt“, sagt Silvia Jais. Sie hatte es bereits in ihrem vorherigen Wohnort Launewitz in Thüringen im Einsatz. „Da wirkte es besser“, sagt die Reddershoferin, weil das Haus in einer Kurve stand — „und zwischen vielen Wendehälsen“. Nach einer Zeit im Umzugskarton macht Karl nun Dienst in Reddershof. Michael Schißler

REDDERSHOF - Marx an Hauswand beruhigt Verkehr und beflügelt Denken