Rostock: Am Volkstheater laufen Proben für Hitchcocks „39 Stufen“

Die Theater in MV sind geschlossen, die Zuschauersäle leer – jedenfalls fast: Im Großen Haus des Rostocker Volkstheaters hat Regisseur Andreas Merz-Raykov auf einem der roten Sessel Platz genommen und gibt den Schauspielern auf der Bühne Regieanweisungen: „Immer auf die Endsilbe achten und die dann überdeutlich betonen“, weist er einen der Schauspieler an. „Dort fehlt ein Wasserglas und die Lampen müssen weiter auseinanderstehen“, bemängelt er dann und deutet auf ein Rednerpult in der Mitte der Bühne. Mit Vier-Personen-Besetzung bereitet der Berliner am Volkstheater zurzeit das Stück „39 Stufen“ – eine Adaption des Hitchcock-Filmklassikers – vor. Wann sie gezeigt werden kann, ist ungewiss. „Wenn wir wieder öffnen dürfen, wollen wir bereit sein“: „Wenn wir wieder öffnen dürfen, wollen wir bereit sein“, sagt Sprecherin Ute Fischer-Graf. Dafür werden im Theater zurzeit neben dem Hitchcock-Stoff auch zwei Operetten-Einakter von Jacques Offenbach einstudiert sowie das Kleist-Schauspiel „Die Marquise von O.“ und das Tanztheater „Life Letters 2“. Natürlich unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen. „Wir haben gemeinsam mit dem Gesundheitsamt für jede Produktion ein eigenes Hygienekonzept entwickelt“, sagt Fischer-Graf. Für das Stück „39 Stufen“ bedeutet dies, dass alle Mitarbeiter in verschiedene Teams eingeteilt sind, die sich untereinander nicht zu nahe kommen dürfen. „Die vier Schauspieler des Stückes dürfen gemeinsam auf der Bühne stehen. Bei den schnellen Umbauten und Umzügen muss aber der Abstand zu den Mitarbeitern hinter der Bühne gewahrt werden, was nicht immer einfach ist“, so Fischer-Graf. Der organisatorische Aufwand zu Pandemie-Zeiten sei daher für alle Produktionen sehr hoch. Für Regisseur Merz-Raykov ist es die dritte Arbeit unter Corona-Bedingungen. „Jedes Theater hat seine eigenen Hygienekonzepte“, sagt er. Die schwierigste Situation, die er erlebt habe, sei eine Produktion in Augsburg gewesen. „Der Inzidenzwert lag bei rund 400 und wir haben alle durchgehend mit FFP-3-Masken gearbeitet“, sagt der 40-Jährige. Lebensgefühl im Lockdown auf das Stück übertragen: Als Merz-Raykov im Frühjahr vom Volkstheater den Auftrag erhält, die Inszenierung der Kriminalkomödie vorzubereiten, sitzt er zu Hause im ersten Lockdown: Dieses Lebensgefühl des absoluten Stillstandes habe er kurzerhand auf das Stück übertragen: „Für mich war die Frage interessant, wie sich aus der Tatsache, dass man nicht mehr rausgehen kann, eine Handlung entwickeln lässt“, sagt er. Und so befindet sich der Protagonist – ein Mann namens Richard Hannay – in einer ähnlichen Lage wie der Regisseur selbst: allein in seinem Zimmer. „Es geht um jemanden, dessen Leben stillgelegt ist und der nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Jemand, der zu viel Angst hat, um auf die Straße zu gehen“, sagt Merz-Raykov. Hier lassen sich durchaus Parallelen zur Gegenwart ziehen. Da es sich bei Hannay jedoch um eine Theaterfigur handelt, kommt das Abenteuer quasi zu ihm ins Haus: „Aus seinen persönlichen in Kisten verpackten Besitztümern setzt sich in einem Traum eine Art Abenteuerfilm zusammen, in den er hineingezogen wird“, verrät der Regisseur. Und dieser Traum hat es in sich. Der Handlung des Alfred-Hitchcock-Films folgend, in der ein Durchschnittsmensch unverhofft zum Helden eines verzwickten Spionagethrillers wird, trifft Hannay eine Schönheit, die kurz darauf mit einem Messer im Rücken in seinen Armen stirbt. Er flieht vor der Polizei, versucht, seine Unschuld zu beweisen, einem Spionagering auf die Spur zu kommen und nebenbei die Welt zu retten. Lesen Sie auch: DDR-Musik: Neues Buch über Ostrock-Legenden von Christian Henschel Bekannt für Briefmarken: Rostocker Grafiker Jochen Bertholdt ist tot Zingster Horizonte mit neuem Thema und neuer Kuratorin „Das Theater arbeitet mit der reinen Behauptung“: Während der Hitchcock-Film durch zahlreiche Darsteller und ständig wechselnde Spielorte besticht – wie dunkle Straßen mit einsamen Laternen, rasende Züge oder gefährliche schottische Moorlandschaften – setzt der Regisseur im Stück auf ein minimalistisches Bühnenbild: Aus einigen Kisten und Vorhängen formieren sich so stets neue Orte. „Das Theater muss nichts so exakt darstellen wie das Kino. Es arbeitet mit der reinen Behauptung“, sagt Merz-Raykov. So wird aus einem Pappkarton beispielsweise ein Zugabteil. „Die Vorstellung formiert sich im Kopf des Betrachters“, sagt der 40-Jährige. Das ist es auch, was der Regisseur am Theater schätzt. „Es ist naiv und anarchisch wie ein Kinderspiel.“ Zudem setzt der Berliner auf schnelle Wechsel und Kontraste: für die vier Darsteller eine Herausforderung, denn sie müssen in insgesamt rund 50 Rollen schlüpfen. Während Bernd Färber als Richard Hannay nur der unfreiwillige Held bleibt, haben die anderen drei (Katharina Paul, Frank Buchwald und Lev Semenov) alle Hände voll zu tun: verführerische Spionin, tumbe Polizisten, gerissene Agenten oder fiese Bösewichter. Da kann sich schon mal ein kleines Missverständnis einschleichen, das zum Fortgang des Krimis beiträgt. Denn den Text nutzt der Regisseur lediglich als Spielgrundlage. „Das Stück hat den Charme eines Improvisationstheaters und kann je nach Abend unterschiedlich ausfallen“, sagt er. Der Reiz liege vor allem in dem, was nicht funktioniere. „Eine gewisse Form von Scheitern ist wichtig, weil es lustig ist, wenn etwas nicht funktioniert. Zum Beispiel wenn der Polizeiinspektor noch den Rock von der Frauen-Rolle davor anhat, weil das Umziehen nicht schnell genug geklappt hat“, sagt der Regisseur und lacht.Das macht für Merz-Raykov auch den Unterschied zum Hitchcock-Stoff aus. Denn während der Film bei Letzterem als Spionagethriller angelegt ist, wird das Stück bei Merz-Raykov zur launig-entgrenzten Komödienanarchie, die mit Slapstick und Klamauk arbeitet und vor allem eine Intention hat: „Sie soll Spaß machen und die Menschen im Theater einbeziehen“, sagt Merz-Raykov. Von Stefanie Büssing