Rostock stellt sich gegen das Vergessen

Es ist still. Nur ein Stromgenerator brummt, während rund 150 Menschen ihre Köpfe gesenkt halten und schweigen. Es ist ein Moment der Trauer und des Gedenkens. Es ist eine Schweigeminute für alle Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Und es ist eine Schweigeminute für NSU-Opfer Mehmet Turgut. Am 25. Februar 2004 wurde der damals 25 Jahre alte Turgut in Toitenwinkel erschossen. Lange Zeit gingen die Ermittler von Drogenkriminalität aus, auch die Familie stand unter Verdacht. 14 Jahre sind seit dem Tag vergangen, an dem sich das Leben der Familie Turgut für immer verändert hat. Für den 24-jährigen Mustafa Turgut ist es jedes Jahr schwer, an den Ort zurückzukehren, an dem sein großer Bruder ermordet wurde. Er war damals noch ein Kind. „Es ist jedes Mal der gleiche Schmerz, wenn ich hier bin. Die Erinnerungen sind dann wieder frisch“, lässt Mustafa seine Worte übersetzen. Doch eines erleichtert es für ihn, die Gedenkstätte zu besuchen: „Ich bedanke mich, dass so viele Leute hier sind.“ Auch Anke Siems und Friedrich Marx aus der Kröpeliner-Tor-Vorstadt sind hier, um ihrem Protest gegen rechte Gewalt Ausdruck zu verleihen. „Ich möchte nicht, dass so etwas noch einmal passiert. Deswegen ist es so wichtig, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen“, sagt Marx. „Wir sind hier, um zu zeigen, dass die Zivilgesellschaft mit Mord – und erst recht mit politisch motiviertem Mord – nicht einverstanden ist“, betont auch Anke Siems. In den Händen hält sie Blumen, die sie auf das Mahnmal in der Neudierkower Straße legt. Kränze und Sträuße sammeln sich auf den zwei Bänken aus Beton, die hier vor vier Jahren aufgestellt wurden. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, steht auf zwei Gedenktafeln – auf Deutsch und auch auf Türkisch. Spuren von Graffiti sind nicht mehr zu sehen. Doch noch vor wenigen Tagen hatten Unbekannte die Bänke mit Farbe beschmiert – zum wiederholten Mal. „Wir veranstalten dieses Gedenken in der Überzeugung, dass alle Menschen, die in dieser Stadt leben und arbeiten, den gleichen Schutz verdienen, unabhängig davon, wie kurz oder lang sie sich hier aufhalten“, sagt Johannes Diesing von der Initiative „Mord verjährt nicht“. „Wir verteidigen diese Überzeugung auch gegenüber jenen, die zum wiederholten Male versucht haben, diesen Ort zu verschandeln.“ Auch Bürgerschaftspräsident Wolfgang Nitzsche findet klare Worte: „Faschismus ist keine Meinung und schon gar keine, für die es ein Recht auf Meinungsfreiheit gibt. Faschismus ist verbrecherisch!“ Für ihn ist dieser Tag ein Anlass, allen Opfern des Rechtsterrorismus zu gedenken. „Trauer ist die reinste Form des Erinnerns. Wir trauern um die, die keine Stimme mehr haben. Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu schreien“, liest ein Besucher aus einem Brief vor. Es sind die Worte von Angehörigen, die ebenfalls geliebte Menschen durch rechte Gewalt verloren haben. Bei der Gedenkveranstaltung teilen mehrere Familien ihre Geschichte mit den Besuchern. Weil die Verfasser selbst nicht anwesend sind, werden die Briefe von Rostockern vorgelesen. „Ich war 13 Jahre alt, als mein Vater umgebracht wurde“, liest eine junge Frau die Worte von Abdul Kerim Simsek vor. Detailliert erzählt er von dem Tag, an dem er seinen Vater verlor. Am 9. September 2000. Enver Simsek starb als erstes Opfer der NSU. „Es war ein schrecklicher Anblick. Ich bemerkte als erstes, dass sein linkes Auge zerfetzt war“, beschreibt er den Besuch auf der Intensiv-Station – das letzte Mal, dass er seinen Vater lebend sieht. „Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft mit acht Schüssen zu töten?“ Diese Frage bleibt unbeantwortet, wie so viele andere auch. Im Zeitraum von 2000 bis 2007 wurden acht türkische Mitbürger, ein griechischer Mitbürger und eine deutsche Polizistin von neonazistischen Verbrechern ermordet. Diese Morde sind der Höhepunkt einer langjährigen rechtsextremistischen Gefahr in der Bundesrepublik. Am 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut Opfer der Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund). Der Gedenkort im Neudierkower Weg in Toitenwinkel wurde 2014 eingeweiht. Immer wieder kommt es vor, dass die Betonbänke und die Gedenktafeln beschmiert werden. Johanna Hegermann

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