Sorge um Kunstwerk: Rostocker retten Ikone der Moderne

Die Diagnose ist positiv: Der Torso im Kulturhistorischen Museum wird nicht den Kopf verlieren. Das Röntgenbild zeigt die Stahlbewehrung im Inneren, die den bedeutenden Steinguss des deutschen Künstlers Wilhelm Lehmbruck (1881 - 1919) sichert. Museumsleiter Steffen Stuth ist beruhigt. Er und seine Mitarbeiter waren in großer Sorge. Feinste Haarrisse am Hals des Torsos ließen vermuten, dass der Ikone der klassischen Moderne möglicherweise bei kleinsten Erschütterungen der Kopf abbricht. „Es sind die Überreste einer herausragenden Plastik“, klärt Museumsleiter Steffen Stuth auf. Deshalb wurde ein ungewöhnlicher Auftrag erteilt: Bitte eine Steinfigur röntgen. Das Museum bat die Rostocker Firma Oehm und Rehbein mit ihrer digitalen portablen Röntgentechnik um Hilfe. Die Techniker rückten mit ihrem mobilen Röntgenkoffer an und positionierten das System am Kunstwerk. „Einen steinernen Torso röntgen, das hatten wir bisher noch nicht“, sagt Christoph Poppe. „Es war spannend und das Ergebnis für alle sehr positiv“, freut sich der erfahrene Röntgentechniker. 1911 hatte Wilhelm Lehmbruck eine seiner bekanntesten Skulpturen, die „Kniende“, geschaffen, die nach der Ausstellung im Pariser Salon d´ Automne ihren Siegeszug zunächst in Amerika antrat. Unter Lehmbrucks Anleitung entstanden vier Steingüsse der Figur, die später als „Entartete Kunst“ gezeigt wurden. Zwei Steingüsse sind heute in New York und Dresden zu sehen. Die beiden Museumsexemplare in Berlin und München wurden zerstört. „Wir gehen davon aus, dass unser Torso das 1937 von den Nationalsozialisten in München beschlagnahmte Exemplar ist, das beim Transport zerstört wurde“, sagt Stuth. Die Figur verlor ihre Gliedmaßen und den Unterkörper. Seit 1947 befindet sich der 82 Zentimeter hohe Steintorso im Rostocker Museum. Er stamme aus dem Nachlass des Kunsthändlers Bernhard Alois Böhmer aus Güstrow, erklärt Museumschef Stuth. Böhmer sei einer der Bevollmächtigten gewesen, die für den Handel mit der „entarteten Kunst“ vom Propagandaministerium ausgewählt wurden. Als sich Böhmer am 2. Mai 1945 das Leben nahm, lagerte ein großer Kunstbestand noch bei ihm. Etliche Kunstwerke wurden von Erben veräußert. 34 Ölgemälde, neun Plastiken und rund 1000 Grafiken aus dem Böhmer-Nachlass wurden im Juli 1947 konfisziert und dem Museum der Stadt Rostock zur Verwahrung übergeben. Nach Rückgabe etlicher Stücke Anfang der 50er Jahre befinden sich heute noch 613 Werke aus Böhmers Nachlass im Kulturhistorischen Museum, die seit 2009 durch Eigentumsübertragung der Hansestadt Rostock gehören. Es ist der letzte geschlossen erhaltene Bestand von Kunstwerken, die die NS-Aktion „Entartete Kunst“ von 1937 überlebt haben. Darunter auch der Frauentorso von Lehmbruck, der neben Ernst Barlach und Käthe Kollwitz zu den bedeutendsten deutschen Bildhauern des 20. Jahrhunderts zählt. Museumsleiter Stuth ist froh, dass der anmutig geneigte Kopf der Lehmbruck-Skulptur dank der Armierung im Inneren gesichert ist. „Dennoch werden wir die Plastik, die bei uns in der Dauerausstellung steht, nur im äußersten Notfall bewegen, um das Material nicht weiter zu stressen“, erklärt Stuth. Die digitale Röntgenanalyse sei eine „coole, spannende Geschichte“ gewesen. „Wir wissen jetzt, wie es geht und wer das hier vor Ort kann“, sagt Stuth. Er könne sich gut vorstellen, auch bei anderen technologischen Untersuchungen von Ausstellungsobjekten künftig auf die Rostocker Firma Oehm und Rehbein zuzugehen. Kein Problem für die Mitarbeiter dort, die davon ausgehen, „dass die angewandte portable Röntgentechnik für museale Forschungen ganz neue Möglichkeiten eröffnet“, wie Sprecherin Daniela Bubber betont. Wilhelm Lehmbrucks „Die Kniende“ Wilhelm Lehmbruck (1881-1919, Foto) schuf 1911 „Die Kniende“ in Paris. Die Figur mit überlangen Gliedmaßen, gestrecktem Oberkörper und prononciert gesenktem Kopf bildete den Auftakt der expressionistischen Plastik in Deutschland und ist zentrales Symbol der Moderne. Insgesamt existierten vier Steingüsse der Figur, die der Bildhauer in Auftrag gab. Ein Exemplar ist heute im Museum of Modern Art in New York, das zweite im Albertinum Dresden zu sehen. Museumsexemplare in Berlin und München wurden zerstört. Der Stein-Torso, seit 1947 in Rostock, soll der Überrest des Münchener Exemplares sein, ist Dr. Steffen Stuth, Direktor des Kulturhistorischen Museums, überzeugt. Doris Kesselring

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