Erinnerungsarbeit mit Rap-Musik

Zugaben und stehende Ovationen nach einer Veranstaltung zum Thema Holocaust? Das gibt es. Im Wismarer Theater feierten die ersten 65 Gäste in der frisch eröffneten Kammerbühne eine Frau und ihre ansteckende Lebensbejahung. Esther Bejarano, Jahrgang 1924, ist eine deutsch-jüdische Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz. Das Lager überlebte sie, weil sie im Mädchenorchester von Auschwitz spielte und laut Rassenideologie ein Viertel „arisches Blut“ in sich hatte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte die Frau eingeladen, dazu „ihre“ Musiker der Rap-Gruppe „Microphone Mafia“, um nach dem Lesungsteil rappend, singend und scherzend „jugendgerechte“ Aufklärungsarbeit zu machen. Auch wenn zumindest die Wismarer Gäste längst nicht mehr als jugendlich anzusehen waren. Das Konzept ging auf. Drei Generationen, drei verschiedene Glaubensrichtungen zusammen auf einer Bühne, vereint durch die Musik und das gemeinsame Singen von Frieden und Freiheit. Angefangen bei der 90-jährigen Esther mit ihrem Sohn Joram — er spielt den E-Bass in der ungewöhnlichen Formation. Sie sind Menschen jüdischen Glaubens. Dazu die beiden Rapper Kutlu Yurtseven — ein Moslem — und Rossi Pennino als Christ. Aber erst die Lesung. Aus einem kleinen Notizheft las Esther Bejarano über die Stationen ihres Lebens, als 18-jähriges Mädchen deportiert ins Konzentrationslager Auschwitz. Einfache Beschreibungen ohne Pathos und vielleicht genau deswegen so intensiv berührend. „Wir standen in einer Reihe und warteten darauf, dass man uns eine Nummer auf den linken Arm tätowierte. Ich war die 41948.“ Sie tauschte ein ganzes Brot — das war die Wochenration — gegen einen wärmenden Pullover. Lieber hungern als frieren. Sie las von der Suppe aus Wasser und Kartoffelschalen oder Brennnesseln. Von der Verlegung nach Ravensbrück dank der christlichen Großmutter väterlicherseits, von der Zwangsarbeit bei Siemens, vom „Todesmarsch“. Sie floh und sang mit russischen und amerikanischen Soldaten am 3. Mai 1945 auf dem Lübzer Marktplatz zum brennenden Hitlerporträt. Dann die Musik. Der türkischstämmige Sozialarbeiter Kutlu Yurtseven und Rossi Pennino mit Wurzeln in Italien könnten Esthers Enkelkinder sein. „Ich seh junge Soldaten, die können‘s kaum erwarten, stehen in den Startlöchern, um Unheil zu starten, doch ihre Augen verraten, wo werden wir begraben sein? Der Krieger stirbt, was bleibt ist der Krieg“, rappten sie. Esther sang dazu „Shir LaShalom“ — ein Friedenslied. Zeitlos, beides. Leider. Kutlu Yurtseven erzählte von Rostock-Lichtenhagen und von seinen damaligen Gedanken als Kölner, das sei ein ostdeutsches Problem und weit weg. Dann wurde er zum Augenzeugen des Kölner NSU-Anschlags und nur aufgrund seines Migrationshintergrundes zum potenziell Verdächtigen. „Damals haben wir ein Lied geschrieben und gedacht, in zehn Jahren müssen wir nicht mehr über Rassismus rappen. Leider haben wir uns verschätzt“, so Kutlu Yurtseven. Es klappt nur, weil die Mehrheit schweigt. Wir müssen alle den Mund aufmachen bei Ungerechtigkeiten, egal wen es betrifft.“Kutlu Yurtseven, Rapper Nicole Hollatz

Wismar - Erinnerungsarbeit mit Rap-Musik