Einziger Knabenchor in MV kommt aus Anklam

„Kerzenschein, eine volle Kirche, das Orchester erklingt und wir stimmen das Weihnachtsoratorium an – das sind Gänsehautmomente“, sagt Lukas Stifft. Der 32-Jährige aus Behrenhoff im Landkreis Greifswald erinnert sich gern an seine Zeit im Anklamer Knabenchor. Sie habe nicht nur sein gesamtes musikalisches Leben geprägt, auch einige Freundschaften haben bis heute überdauert. Der Chor, der 1972 gegründet wurde, hat nicht nur eine wechselvolle Geschichte, sondern ist auch der einzige Knabenchor Mecklenburg-Vorpommerns. Zum Chor gehören zurzeit 16 Sänger im Alter zwischen 8 und 17 Jahren. Wegen der Corona-Pandemie musste der Chor das Singen in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal auf Eis legen. „Toll, wenn der Funke überspringt“: „Der Begriff Knabenchor klingt vielleicht ein wenig veraltet“, sagt Stifft. „Aber das Repertoire umfasst neben der klassischen Gesangsausbildung auch moderne Formen, wie Popmusik“, sagt Stifft. „Singen macht einfach Spaß, und es ist toll, wenn der Funke auf das Publikum überspringt.“ Und das geschieht bei dem ehemaligen Sängerknaben, der heute Vorsitzender des Knabenchor-Fördervereins ist, noch heute: Den sein damaliges Hobby hat der 32-Jährige inzwischen zum Beruf gemacht. Als Musiker und Redner ist er auf diversen Veranstaltungen unterwegs und spielt unter anderem mit dem Kammertrio „Nimmersatt“ Musik der 20er und 30er Jahre. „Ich habe schon immer gern gesungen und bin 1994 mit sechs Jahren in den Chor gekommen“, sagt Stifft. Dem jungen Mann sei das Singen quasi in die Wiege gelegt worden. „Mein Vater hat bis Anfang der 80er Jahre selbst im Anklamer Knabenchor gesungen“, sagt er. 1997 wird er selbst in den Konzertchor aufgenommen. „Im Hauptchor waren wir mehr als 40 Jungs und haben große Werke mit Orchester gesungen. Allein im Winter haben wir um die 26 Weihnachtskonzerte gespielt. Wir waren oft unterwegs, mit dem eigenen Tourbus auf Konzertreisen nach Thüringen Polen oder Lettland“, erinnert sich Stifft. 14 Jahre singt er im Knabenchor, probt viermal die Woche, lernt Noten lesen, paukt Theorie. Aus dem Knabensopran wird ein Tenor. „Es war viel Arbeit, aber diese Zeit will ich nicht missen“, sagt er. „Der Zusammenhalt war einfach wahnsinnig groß. Einige Freundschaften haben bis heute Bestand.“ Gemeinsam setzen sich die Sänger auch für den Erhalt des Chores ein, als dessen Existenz in Gefahr ist: Knaben haben gesungen, um den Chor zu retten: Seit der Wende ist die Stadt Anklam Träger des Chors, der Chor Aushängeschild der Stadt. Doch als nach der Jahrtausendwende die damalige Chorleiterin wegen Differenzen ihr Amt niederlegt, findet sich zunächst kein Nachfolger. „Also haben wir uns 2003 als Chorjungs hingestellt und im Stadtparlament gesungen, um den Chor zu retten“, sagt Stifft. Nach Verhandlungen von Stadt und Kulturfabrik, die auch Träger der Vorpommerschen Landesbühne ist, bietet der ehemalige Intendant Wolfgang Bordel an, den Chor 2004 unter das Dach der Kulturfabrik zu holen. Ähnlich unverhofft kommt im selben Jahr Mike Hartmann – seit 1999 musikalischer Leiter der Vorpommerschen Landesbühne – zu seiner neuen Tätigkeit als Chorleiter. „Wir hatten einen jungen Anwärter gefunden, aber weil der zur Übernahme der Geschäfte nicht kam, habe ich spontan angeboten, es übergangsweise zu machen“, sagt Hartmann und lacht. Die Voraussetzungen brachte er mit. „Ich habe Kirchenmusik studiert, dazu gehörte auch Chorleitung“, sagt der 56-Jährige, der aus Dittmarschen stammt und 1992 zum Studium nach Greifswald kam. Auch wenn er zu Beginn skeptisch gewesen sei: „Ich hatte vorher keine Berührung mit einem Knabenchor und ein eher klischeebeladenes Bild“ verrät er. „Bei einem Knabenchor denken viele, das sind alles kleine Jungs. Aber hier wird hier äußerst professionell gearbeitet. Vierstimmig die Lieder aus verschiedenen Jahrhunderten zu singen, das geht häufig nicht mal mit einem Kirchchor“, lobt er seine Sänger. „Die fehlende Ausbildung können wir nicht nachholen“: Neben der Pflege des traditionellen Repertoires bringt er frischen Wind in die Sängertruppe: „Wir haben auf einmal Lieder wie ’Come Together’ von den Beatles gesungen. Das war auch für uns neu“, sagt Stifft und lacht. Auch Instrumente, wie Gitarre, E-Bass und Cajon sind dank Hartmann dazugekommen. „Irgendwann hat es angefangen, mir wirklich Spaß zu machen“, sagt Hartmann. Und so blieb er. Doch die derzeitige Situation ist auch für ihn nicht leicht: Denn coronabedingt muss der Chor zurzeit die Proben aussetzen – von Auftritten ganz zu schweigen. „Dieses Jahr ist uns komplett durch die Lappen gegangen“, bedauert der Chorleiter. „Das was in dieser Zeit an Ausbildung für die Jungs verloren gegangen ist, können wir nicht nachholen. Sie haben vor dem Stimmbruch ja nur ein Zeitfenster von einigen Jahren.“ Nur im August und September habe der Chor unter Hygieneauflagen singen dürfen. „Dann mussten wir die Proben wieder einstellen“, so Hartmann. Auch Onlineproben kommen für ihn nicht infrage: „Viele haben kein Breitband zuhause oder teilweise gar keinen Computer. Zudem höre ich über den PC nicht mal, ob die Jungs lispeln. Musizieren kann man so nicht.“ Auch die Probe zu Haus fällt für viele aus: „Wenn man allein probt, weiß man nicht, ob man die richtigen Töne trifft“, sagt der 15-jährige Robin Joschua, der seit sechs Jahren im Anklamer Knabenchor singt. „Außerdem fehlt der Spaß, mit anderen gemeinsam zu singen“, sagt Hartmann.“ Und das ist ja schließlich das, was den Chorgesang ausmacht.“ Flashmob im Netz: Um auf die schwierige Situation aufmerksam zu machen, hat der Chor unter dem Titel #KulturGutKnabenchor gemeinsam mit weiteren 44 Knabenchören aus Deutschland, Österreich und der Schweiz einen digitalen Flashmob mit der musikalischen Botschaft „Viva la musica“ ins Netz gestellt. Initiiert wurde die Aktion von den Augsburger Domsingknaben, den Regensburger Domspatzen, dem Tölzer Knabenchor und dem Windsbacher Knabenchor. Die Jungs haben sich einzeln zu Hause oder in der Schule beim Singen aufgenommen, Chorleiter Hartmann hat die Ausschnitte musikalisch zusammengefügt. Zu sehen ist diese Botschaft aktuell auf der Internet-Seite der Vorpommerschen Landesbühne. „Wir wollten einfach zeigen, dass es uns noch gibt“, sagt Hartmann. Denn auch Nachwuchs zu rekrutieren, sei in dieser Zeit kaum möglich. Was ihn und seinen Chor am meisten schmerzt, ist das fehlende Publikum. Höhepunkte, wie das große Weihnachtskonzert in der Anklamer Käthe-Kollwitz-Schule am 23. Dezember, finden in diesem Jahr nicht statt. „Die Weihnachtszeit ist die Hauptsaison für den Chor“, sagt Hartmann. „Aber schon jetzt sind alle Konzerte abgesagt“, sagt er traurig. Gemeinsam mit seinen Knaben bleibt ihm nur eins: „Die Hoffnung, dass es möglichst bald wieder losgeht.“ Lesen Sie auch: Rostock: Benefizkonzert von HMT-Studenten für Projekt "Musikali" live im Netz Dirk Löschner wird Intendant in Zwickau-Plauen Kirche in Recknitz soll neuer Kultur-Hotspot werden Von Stefanie Büssing