In der Zeitmaschine

„Das, was hier wie überdimensionierte Klopapierrollen aussieht, ist die Basis der Zeitung, die Sie morgens in Ihrem Briefkasten haben“, sagt Toni Berndt, Kaufmännischer Direktor der Festspiele MV in der Druckerei der OSTSEE-ZEITUNG. Berndt begrüßt 200 Gäste im Papiertunnel, dem Basement oder Fundament der Zeitung, wie er sagt. Dort, wo sonst Maschinen das Sagen haben, übernehmen Musiker, Percussionisten das Zepter. Es hat etwas Erhabenes, in diesem Raum der Musik von Jan-Frederick Behrend (42) oder Keiko Abé (76) zu lauschen – zeitgenössische Percussion an einem historischen Ort. Hier, im Papiertunnel, wo nun Gäste eines Klassikkonzerts sitzen und die riesigen Klorollen von Gabelstaplern beiseitegeschafft wurden, war einmal der Druckturm der OZ, der nun einem noch größeren gewichen ist. Und hier in der Richard-Wagner-Straße hat einmal das Rostocker Theater gestanden. Seit 1952 ist dieser Ort Residenz der OZ. Und die ist an diesem Wochenende Location Manager für die Festspiele MV, die als Gastgeber des Formats „Unerhörte Orte“ 600 Gäste empfangen. Die kargen Betonwände in rosafarbenes Licht getaucht als Raum für ein außergewöhnliches Experiment. Die Druckerei als Klanglabor. Das Elbtonal Percussion Ensemble aus Pinneberg braucht nur Minuten, um den Raum zu verzaubern. Die vier Musiker um den Percussionisten Jan-Frederick Behrend, der an der Rostocker Hochschule für Musik und Theater (HMT) unterrichtet, nutzen in ihrer Performance neben Schlagwerk alles, was sie finden, um Musik in den Raum zu transportieren – von Papierrollen bis zu Plastiktonnen oder Eimern. Bewegung, Fluss, Rhythmus, Humor lautet die Zauberformel dieser Musik. Und es scheint wie Ironie. Während sich in der Druckerei mit dem Schlagzeug das kommende Instrument des 21. Jahrhunderts austobt, das in der ernsthaften Musik erst seit dem Jazz eine zentrale Rolle spielt, schleicht sich durch die Weiterverarbeitung der OZ, dort wo die einzelnen Seiten mittels Computertechnik in eine Zeitung sortiert werden, das Instrument der Klassik durch den Raum. Francesco Tristano, Pianist aus Luxemburg, spielt zeitgleich vor ebenfalls 200 Gästen eine selbst komponierte Begrüßung, die französische Suite von Johann Sebastian Bach und „Strings of Life“ des Techno-Urvaters Derrick May (55) aus Detroit. Noch eine Etage weiter im großen OZ-Saal bietet das Duo Impulsiv mit Sergey Mikhaylenko und Richard Putz zeitgenössische Musik wie „Nagoya Marimbas“ von Steve Reich (82) und Präludien von Schostakowitsch und eine Invention für zwei Marimbas von Bach. Dieses Wandelkonzert im Format „Unerhörte Orte“ ist von den Festspielen im Medienhaus als Klang- und Raumerlebnis und perkussiver Abend zwischen Klassik, Jazz und Weltmusik mit Klavier und Electronics angelegt. Das Format will musikalisch Orte erkunden, deren Dasein im Alltag einen anderen Zweck erfüllen. Es gab Konzerte beim Kranbauer Liebherr in Rostock, im Plenarsaal des Schweriner Schlosses oder der Eisengießerei Torgelow. Festspielintendant Markus Fein hatte zu Beginn des Wandelkonzerts angekündigt, diesen besonderen Ort „nicht nur als Kulisse zu nutzen, sondern ihm das Konzert auf den Leib zu schneidern“. Was bedeutet das? Von Bach bis Abé. Allein Programm und Instrumentalisierung zwischen dem feinsinnigen Klavier Tristanos und den kräftigen Percussions des Marimbaphon-Duos und des Hamburger Ensembles zeigen, dass die Industriehalle nicht bloß toughe Deko für ein cooles Konzert ist, sondern die Musik eingebettet ist in ihre Zeit. Die Musik als Destillat jeglicher Epoche – wie auch Kunst und Literatur – die den Zeitgeist, den Charakter einer Gesellschaft und ihrer Errungenschaften als auch Rituale dessen, was es zu erhalten gilt, bewahrt – der Erinnerung. So speist sich nun mal der Kosmos zeitgenössischer Musiker naturgemäß aus einem weitaus größeren Fundus als jener historischer Musik. Die Zeit Johann Sebastian Bachs mit Pferdekutschen und höfischen Ritualen bringt andere Musik hervor als jene mit Techno und digitalem Datenwahn. Doch was bleibt? Was im Percussionston, dem Klang des jungen 21. Jahrhunderts, in der Druckerei zuweilen anmutet wie ein Mix aus musikalischen Hütchenspielern, Rhythmusderwischen und Blue Man Group, stellt sich an eben diesem Ort völlig anderen Fragestellungen als Tristanos Bach-Suite eine Halle weiter. Die Zeitung, das Medienhaus, als exakt jener Ort, der sich aktuell mit der digitalen Revolution, ihren Chancen, Risiken und ökonomischen wie gesellschaftspolitischen Folgen am intensivsten auseinanderzusetzen hat, und ihre Historie im musikalischen Spiegel. Dort, wo sonst täglich 130000 Zeitungen an Transportketten durch die Halle sausen, steht der 36-jährige Tristano am Flügel und lässt den Rhythmus der Musik durch seinen Körper fließen. „Ich mag die Verbindung von Bach und den zeitgenössischen Werken und kann da völlig mitgehen“, sagt Ingrid Forstreuter aus Rostock und klopft wie zur Bestätigung mit ihrem Zeigefinger den Rhythmus von Mays „Strings of Life“ auf ihr Programmheft. „Das Programm am Klavier war nicht so ganz meins, obwohl es gut gemacht war“, sagt indes Dirk Krüger, Elektriker bei der OZ. „Aber das Elbtonal Percussion Ensemble hat eine tolle Show abgezogen, da hat alles gepasst“, befindet der Wacken-Fan. „Mir so etwas anzuschauen, das könnte ich mir öfter mal vorstellen.“ Das, was an diesem Abend auf dem Gelände der OZ wie der musikalische Tanz von Kraft um eine imaginäre Mitte anmutet, hinterlässt bei den Besuchern Spurenelemente von Begeisterung. „Wow“, sagen Georg und Doris Kühn (64). Der Linienführer in der Weiterverarbeitung der OZ und seine Ehefrau Doris haben sich das Konzert zum 44. Hochzeitstag gegönnt. „Was diese Musiker hier mit ganzem Körpereinsatz, dem Klavier oder bloßen Plastikeimern auf die Bühne zaubern – unglaublich. Wir sind auf jeden Fall inspiriert und werden uns weitere Konzerte anschauen.“ Musik wie in der Zeitmaschine. Sie zeigt, dass alles im steten Wandel ist, aber eine zeitüberdauernde Sprache existiert, um zu verstehen. Die Musik, die bleibt. Und verbindet. Michael Meyer und Stefanie Büssing

Rostock - In der Zeitmaschine