Korallen aus 80 Metern Meerestiefe

Ein wenig verwundert scheint der kleine Seeteufel durch die Aquarienscheibe zu schauen. Seit einigen Wochen ist seine Welt eine andere. Zuvor, in über 80 Metern Meerestiefe und umgeben von Dunkelheit, übte er verborgen im Sand das Heranwachsen. Bis ihn fremde Taucher fanden und im Juni nach Stralsund brachten. Mit ihm fünf Artgenossen und weit über eintausend andere Tiefseebewohner aus dem Nordmeer vor Norwegen. Darunter Gorgonenhäupter, Seesterne, Krabben, Nacktschnecken, Muscheln, Tiefseegarnelen, ein Leng, viele Rotbarsche und Seewölfe, die teilweise schon in die Schaubecken eingezogen sind oder noch in Quarantäne auf ihr neues Zuhause warten. Es war eine äußerst erfolgreiche Fangfahrt der Expeditionsteilnehmer aus Stralsund in den Gewässern vor Alesund. Der große Fangerfolg, zu dem der junge Seeteufel sicher nicht ganz freiwillig beitrug, versetzte die Aquarianer im Ozeaneum in eine luxuriöse Lage. Sie haben jetzt ausreichend Besatz für die Themenbecken im Nordseerundgang. Während die Dekoration der Schauaquarien oft aufmerksames Hinsehen erfordert, um die versteckten und eher unscheinbaren Bewohner zu erkennen, lassen sich in den Quarantänebecken die Besonderheiten mancher Neuankömmlinge wesentlich einfacher entdecken. So wie bei den Gespensterkrabben, die sich mit kleinen Teilchen von Algen und Seetang tarnen. Anmutig sind auch die Anemonen-Einsiedlerkrebse mit ihren zwei unterschiedlich großen Scheren, die ihre persönliche Anemone mit sich herumtragen. Wie diese eigenartigen Krebse an ihren Partner gelangen, ist für die Wissenschaft bislang ein Rätsel. Von Aquarium zu Aquarium führt die volle Fangliste der Expedition. Ein Tiefseegeschöpf interessanter und faszinierender als das andere: Schlangensterne, Steinkrabben, Furchenkrebse. Nachdem sich alle Tiere an ihre neue Umwelt gewöhnt haben, werden sie nach und nach in die Unterwasserwelten einziehen. Genau wie die Kaltwasserkorallen, die hauptsächlich im Focus der Expedition standen. Diese in rund 80 Meter Meerestiefe und absoluter Dunkelheit aufzufinden, ist ein schwieriges Unterfangen, wie Taucheinsatzleiter Henning May schildert. Nicht immer sind die äußerst aufwändigen Tauchgänge von Erfolg gekrönt. Selbst nach Hinweisen einheimischer Tauchkollegen und trotz des Studiums spezieller Seekarten wissen die Ozeaneums-Taucher nie, was sie erwartet. Entsprechend unbefriedigend war der Fangerfolg der ersten Tage. Das sollte sich jedoch zum Ende der Expedition gewaltig ändern. Denn „der allerletzte Tauchgang wurde zu einem unglaublichen Erlebnis“, erinnert sich der Cheftaucher. Bereits 2013 brachten die Taucher seltene Kaltwasserkorallen mit ins Deutsche Meeresmuseum. Mit Hilfe des Tauchbootes „Jago“ waren es überwiegend Steinkorallen. Diesmal standen auf der Fangliste vor allem Horn- und Weichkorallen. Am letzten Tag nun war nach bislang mäßigen Korallenfunden ein vielversprechender Unterwasserhügel das Ziel. Schwer beladen mit Gasflaschen spezieller Gasgemische stieß das Tauchteam in die Tiefe hinab. „Schon bei rund 60 Metern Tiefe leuchteten uns die Korallenfelder im Scheinwerferlicht entgegen“, beschreibt Henning May das überraschende Bild. Der besagte Unterwasserhügel, der bis in 160 Meter Tiefe reicht, erwies sich als wahre Fundgrube. In den verbleibenden 25 Minuten konnten die Taucher 16 Hornkorallen (Gorgonien) und zehn Weichkorallen (Tote Mannshand) einsammeln. Die Neulinge sind schon in das Becken für die Tiefseekorallen eingezogen. Nach langer Experimentierphase — es gibt bislang nur wenige Erfahrungen, die schwierigen Umweltbedingungen der Tiefsee in Aquarien nachzustellen — können die Anforderungen der sensiblen Polypen-Kolonien an Strömung, Temperatur und Lichtverhältnisse nun nachempfunden werden. Für die Fütterung von Hand ist unter anderem Aquarianerin Verena Klein zuständig. Wer Glück hat, kann die hungrigen Korallen bei einem Ozeaneumsbesuch vor der Aquarienscheibe beobachten. Riff größer als Manhattan An den Rändern der kontinentalen Schelfe, zwischen 40 und 3000 Metern Tiefe, wo kaum Sonnenlicht vordringt, erstrecken sich die Riffe der Kaltwasserkorallen. Im Nordost-Atlantik ist die vorherrschende riffbildende Art Lophelia pertusa, eine Steinkoralle, die mit 4 bis 25 Millimetern pro Jahr nur sehr langsam wächst. Das größtes Kaltwasserkorallenriff ist das Røst-Riff vor Norwegen mit einer Fläche von über 130 Quadratkilometern. Das Unterwasserbauwerk ist damit größer als Manhattan. Bernd Hinkeldey

Stralsund - Korallen aus 80 Metern Meerestiefe