Verliebte Jungs zwischen Mauer und Perestroika

Eine Stadt steht Kopf! Gorbatschow ist da, Panikrocker Udo auch. Vor der Kulisse von Sexshops und Kneipen mit Barbusigen an der Hausfassade ziehen Jungpioniere einen Bollerwagen mit Altpapier durch die Straßen — in Usedom wird wieder an der Uhr gedreht. Auf der Hafenbühne ist der Osten real — „Es ist Ende 70er, Anfang 80er Jahre“, sagt Birgit Lenz. Sie ist die Regisseurin des neuen Stücks „Sonnenallee“ — eine Komödie nach dem gleichnamigen Film von Leander Haußmann und Thomas Brussig. Im achten Jahr des Hafenspektakels gibt es erstmals kein Stück von Rudi Strahl. Und damit kein Spaß aus der Provinz. Usedom spielt nun in der ersten Liga — in der Hauptstadt, einer geteilten Metropole. Gesungen, getanzt, geweint und gelacht wird vor der Berliner Mauer — Spaß gibt es direkt an der Sonnenallee, am Grenzübergang. „Wo sich Sozialismus und Kapitalismus in die Augen schauen“, so Birgit Lenz, die auch ohne Strahl-Geschichte am Ost-West-Stoff festhalten wollte. „Wir spielen aber nicht den Film nach“, betont die Regisseurin. 1999 feierte der Streifen „Sonnenallee“ seine Premiere. In Usedom rücken morgen die 25 Akteure das erste Mal vor Publikum ins Scheinwerferlicht. Dann darf die Clique um Wuschel, Mario und Micha auf der Straße den alten Stern-Radiorekorder wieder aufdrehen und die Stones oder Lindenberg hören. Unerwünschte Musik, die dem Abschnittsbevollmächtigten (ABV) Dengler natürlich nicht verborgen bleibt. Er erwischt die Jungs und konfisziert das Tongerät. Wir sind mitten in der Geschichte. Ronald „ABV“ Jopt ist für die Usedomer Bühne ein Muss, genauso wie die Artenvielfalt der ostalgischen Motorisierung (Schwalbe, Trabant) und die Hafen-Hasen Torsten Schemmel und Lokalmatadorin Birgit Zierke. Und natürlich die Musik. Davon gibt es auch in diesem Jahr reichlich: Karat, Puhdys, Keimzeit mit „Kling Klang“ oder Michael Jacksons „Thriller“. „Ich bin der schönste Junge aus der DDR“ — das ist der Lieblingssong von Martin Petschan. „Das ist eine schneidige Nummer“, meint er zu dem Lied der „Herzbuben“, die heute als „Prinzen“ bekannt sind. Der 29-jährige Heidelberger ist seit 2013 an der Theaterakademie und das erste Mal auf der Hafenbühne im Einsatz. Er spielt den Wuschel, der dem ABV unter Protest seine geliebte Stones-Schallplatte abtreten muss. Wie findet er sein berufliches „Wohnzimmer“ in dieser Saison? „Hier ist es richtig gemütlich, allerdings gibt es zu wenig Schatten.“ Soll es auch nicht. „Ein sonniger Abend auf der Hafenbühne sorgt für eine besondere Atmosphäre“, schwärmt Wolfgang Bordel, Intendant der Vorpommerschen Landesbühne, noch immer von diesem Spielort. Der im nächsten Jahr vielleicht Baumaschinen weichen muss. „Die geplante Sanierung des Usedomer Hafens ist für uns eher hinderlich“, gesteht Bordel. Ob, wo oder wie das komödiantische Ost-West-Paket 2016 geschnürt wird, wissen weder Bordel noch Birgit Lenz. Das ist Zukunftsmusik. Die Gegenwart beginnt morgen um 19.30 Uhr. Wenn die Wessis ihre Ost-Nachbarn von einer Aussichtsplattform provozieren mit Sprüchen, wie „Zonis“ oder „Kommunistenknechte“. Und wenn Gorbatschow im blauen Trabant auf die Bühne tuckert und das Ende der DDR besiegelt. Der Schlagbaum geht hoch in der Sonnenallee! Henrik Nitzsche

Usedom - Verliebte Jungs zwischen Mauer und Perestroika