Vom Sinn und Unsinn der alltäglichen Entblößung

Erste Premiere des neuen Oberspielleiters André Rößler wird am Sonnabend das Schauspiel „Gyges und sein Ring“sein. Ein Stück, das Friedrich Hebbel 1854 unter dem Eindruck der abebbenden Revolution von 1848 schrieb. „Gyges“ wird selten gespielt, aber das heißt nichts. Es ist ein antiker Stoff, den Hebbel da aufgriff. Also top aktuell, wie nie, weil diese alten Griechen — um genau zu sein: Herakles — ein utopisches Interesse an den menschlichen Abgründen hatten. Ebenso wie Hebbel dann auch. Und André Rößler wie‘s aussieht auch, sonst hätte er das Stück nicht als seinen Einstand gewählt. Zeitbezug? Und wie! Es hat sich ja nichts verändert in der menschlichen Tragödie schlechthin. Und hier liegt einiges auf dem Grund: Man könnte, würde man die Handlung von „Gyges“ erzählen wollen, ausführen, es handle sich um einen Enthüllungs-Skandal. Auch hat die Geschichte das Zeug für eine Verschleierungs-Debatte. Politisch ließe sich trefflich streiten über konservative und fortschrittliche Gesellschaftssysteme. Am Griechen Gyges könnte sich sogar, wenn auch ein wenig bemüht, aber immerhin, eine Euro-Hilfspaket-Debatte entzünden. Schlichtweg aber geht es um einen König — Kandaules, Thronerbe in gerader Folge, der monarchisch in etwa so lässig auftritt, wie Prinz William von England. Nur dass dieser eine Frau hat, die schöne Rhodope, die als Traditionsextremistin davon überzeugt ist, dass es zu tödlichen Verwicklungen kommen wird, falls je ein Mann, ausgenommen ihr Gatte und ihr Vater, ihr Antlitz unverhüllt zu Gesicht bekommt. Das aber geschieht. Mittels eines Ringes nämlich, der unsichtbar macht. Und zweier Männer, die so sind, wie Männer eben sind, wenn die Eitelkeit mit ihnen durchgeht und sie auf Regeln und Traditionen pfeifen. Und auch dagegen ist ja nichts zu sagen. Was wäre die Aufklärung ohne solche Freigeister gewesen? Der Regisseur aber ist beeindruckt von der Figur der Rhodope. Sie steht zu ihrer Herkunft aus einem fremden Kulturkreis bis in den Tod. Er mag das und er hinterfragt den Sinn und Unsinn der alltäglichen Entblößung von Fakten und, ja, auch Körpern. Wie viel Wahrheit braucht der Mensch? Das Stück gibt keine Antworten, erklärt der Dramaturg Franz Burkhard. Zeigt aber die Geometrie der Gedanken auf. Die schlichte Ordnung spiegelt sich auch in der Bühne und den Kostümen von Simone Steinmetz wieder. Ein Dom aus dehnbaren weißen Bändern, die sich immer mehr zu einem Netz verzurren. Geprobt wird auf der großen Bühne des Stralsunder Theaters mit übersichtlichem Personal: Marco Bahr ist der König, Gyges wird von Alexander Frank Zieglarski gespielt und Rhodope von Claudia Lüftenegger. Es gibt noch ein wenig Hofpersonal. Auch der Ring an sich führt ein Eigenleben. Mit unverschnörkelter, dichter und wahrer Hebbel-Sprache geht es um Leben und Tod. André Rößler verspricht einen spannenden Theaterabend. Und ein fulminantes und überraschendes Ende. Premiere ist am 28. September in Stralsund und am 2. November in Greifswald. Vorschau für Lehrer Lehrer haben morgen, 17 Uhr, die Chance, im Großen Haus Einblick in die jüngste Produktion des Theaters, „Gyges und sein Ring“, zu nehmen. Vor der Hauptprobe um 18 Uhr werden Dramaturg Franz Burkhard und Theaterpädagogin Dorothea Buhl zu Stück und Inszenierung Einblick geben sowie Anregungen für den Unterricht. Anmeldung: ☎ 264 61 14. Juliane Voigt

Stralsund - Vom Sinn und Unsinn der alltäglichen Entblößung