Von Braun und die Hirsch-Schlappe

Diese Trophäe ist wahrlich von stolzem Format! Die Fachleute nennen das Geweih eines Rothirsches einen „Ungeraden 20-Ender“. Den gibt es in großen und gepflegten Rotwildbeständen wie heutzutage auf und nahe Usedom durchaus ab und an zu bewundern. Aber das Exemplar, das Siegfried Trieglaff sein Eigen nennt, hat eine besondere, ja außergewöhnliche Geschichte, von der heutzutage die wenigsten Insulaner wissen dürften. Trieglaff, eine Legende unter den grünberockten Usedomer Wald-Spezialisten und inzwischen stolze 90 Lenze jung, weiß sie aber in groben Zügen zu erzählen. Zunächst Zeitenwechsel! Wir sind in der Endphase der 1930er Jahre und im Norden Usedoms. Auf dem Gelände der Heeresversuchsanstalt (HVA) Peenemünde wird ruhelos gebaut, entwickelt und getestet. Unter anderem am Prüfstand VII, an dem ein groß dimensionierter, bis an die zehn Meter hoher Schutzwall für die künftigen Versuche zu errichten ist. Per Bagger werden Sedimentschichten beräumt und aufgetürmt, als der Baggerführer plötzlich ein riesiges Geweih auf der Schaufel der Maschine entdeckt. Es handelt sich um die stolze Trophäe eines Rothirsches, wie schnell klar wird. Der spätere Schwiegervater von Siegfried Trieglaff, Otto Zillmer, betrieb zu jener Zeit das Offizierscasino in der Versuchsanstalt und wird als einer der ersten in Peenemünde mit dem Fund konfrontiert. Sofort ist seine Kauflust geweckt. Und es dauert wohl auch nur sehr kurze Zeit, bis man sich einig wird; Baggerführer und Kantinenchef geben sich die Hand auf den Deal, eine bis heute unbekannte Summe Geld wechselt den Besitzer. Zillmer ist neuer Eigentümer der Trophäe. Doch seine Freude währt (zunächst) nicht allzulange. Denn Wernher von Braun, ab 1937 technischer Direktor der neuen Heeresversuchsanstalt Peenemünde und einer derer, die hier das Sagen hatten, stellte klar: Dieses Teil will er haben, unbedingt. „Es entbrannte wohl ein Streit über Tage, der jedoch nicht dazu führte, dass mein späterer Schwiegervater kleinbei gab“, berichtet Trieglaff. Also eskaliert die Auseinandersetzung. Die Sache kommt vor ein Stettiner Gericht, weil von Braun nicht locker lässt und seine Ansprüche wohl mit der HVA und entsprechenden Eigentumsrechten zu begründen versucht. Doch der Richter entscheidet anders: Der Kantinenchef darf das ordentlich erworbene Fundstück behalten. Zillmer muss später in den Krieg ziehen, überlebt aber unter günstigen Umständen. Und als sich der Mann mit Vorliebe und Geschick für die Gastronomie in den 1950er Jahren für das „Deutsche Haus“ an der Einmündung Alte Strandstraße in die Bundesstraße (heute ein Stück Brachland) interessiert, wird bald klar, dass der Ungerade 20-Ender wieder einen stolzen Platz im Gastraum einnehmen wird. „Die alten Zinnowitzer werden sich gewiss daran erinnern, obwohl nicht mehr viele Vertreter dieser Generation leben“, meint Zillmers Schwiegersohn, in dessen Hände die Trophäe schließlich gelangte, als er zu liegen kommt und schließlich stirbt. Seitdem hängt das beeindruckende Exemplar im Treppenhaus seines Zinnowitzer Domizils, lockt neugierige Gäste an und ist zugleich Trieglaffs großer Stolz: „Es ist die stärkste Trophäe meiner über 60-jährigen jagdlichen Laufbahn. Allerdings betone ich auch immer wieder, dass ich diesen Hirsch nicht selbst erlegt habe.“ Dass nicht zu sagen ist, wie lange der 20-Ender in der Erde gelegen und wie alt also eigentlich das Rothirschgeweih gewesen ist, hängt damit zusammen, dass sein jetziger Eigentümer es einem ausgewiesenen Fachmann nicht erlaubte, ein Stück aus dem Fundstück herauszusägen, um per wissenschaftlicher Analyse eine Altersangabe anstellen zu können. Trieglaff ist sich allerdings ziemlich sicher, dass diese Trophäe schon mehrere hundert Jahre im tiefen Waldboden gelegen hatte. Steffen Adler

Zinnowitz - Von Braun und die Hirsch-Schlappe