140 neue Arten in der Ostsee vor MV: Beispiele und Auswirkungen

Zwischen den 1860er-Jahren und 2016 haben sich 140 neue Organismen in der Ostsee angesiedelt und verbreitet. Sie kommen unter anderem aus dem Indopazifik, Nordamerika und Südosteuropa. „In den letzten fünf Jahren sind 14 neue Arten hinzugekommen, davon hauptsächlich Krebse“, sagt Ines Martin, Kuratorin am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund. „Die Entdeckungsquote steigt. Glücklicherweise geben uns viele Fischer sofort Bescheid, wenn sie eine ungewöhnliche Art entdecken.“ Initialzündung 1996: 1996 hat sich Martin erstmals mit der Erforschung fremder Organismen befasst. „Ein Fischer in Stahlbrode hat mir kleine Krabben gebracht und beklagt, dass diese die Netze beschädigen. Er ging davon aus, dass es sich um Babys der heimischen Strandkrabbe handelt und diese noch wachsen werden.“ Doch der Biologin fielen Unterschiede der kleinen Tiere im Vergleich zur Strandkrabbe auf – die Strandkrabbe habe schlanke Scheren, die in guter Proportion zum Körper stünden. „Das kleinere Tier hatte große ,Boxerscheren’“, erklärt sie. „Das war eine andere Art.“ Recherchen ergaben, dass es sich um eine Brackwasserkrabbe handelt, die an der nordamerikanischen Küste verbreitet ist. In Europa tauchte sie erstmals 1870 in der holländischen Zuiderzee auf und wurde 1936 mit holländischen Baggern, die am Nord-Ostsee-Kanal eingesetzt waren, weiter eingeschleppt. Zudem erfuhr die Wahl-Stralsunderin, dass die Krabbe, die auch als Zuiderzeekrabbe bezeichnet wird, in den 50er-Jahren an den Häfen Polens auftauchte. Von Osten und Westen habe sie schließlich die deutschen Gewässer erreicht. Einwanderung hauptsächlich per Schiff: Die Hälfte aller Arten würden per Schiff in die europäischen Gewässer gelangen. Das geschehe über das Ballastwasser: Schiffe nehmen Wasser in Tanks auf, um während der Fahrt ohne Ladung eine ausreichende Stabilität zu gewährleisten. Beim Ablassen des Wassers geraten die darin schwimmenden Organismen in andere Gebiete. Jetzt neu: Wir bieten Ihnen gebündelt alle News und Tipps rund um den Urlaub in MV in Corona-Zeiten. Der Newsletter kommt jede Woche am Donnerstag gegen 10 Uhr in Ihr E-Mail-Postfach. Ganz einfach hier anmelden! Ein Drittel der Eintragswege seien unbekannt, andere kämen durch die Zucht in die Gewässer. „Eltern kaufen ihren Kindern ein exotisches Haustier in der Zoohandlung und irgendwann wird das Tier dann ausgesetzt, weil die Kinder sich nicht mehr kümmern wollen“, sagt Martin. „Genau das darf nicht sein. So wird unter anderem der vom Aussterben bedrohte heimische Edelkrebs verdrängt.“ Arten können andere verdrängen: Ob und inwiefern diese Entwicklung Einflüsse auf die heimischen Organismen haben, gehört zur Forschung der Kuratorin. „Vieles, was am Anfang als existenzbedrohend für die heimischen Organismen angesehen wurde, hat sich nicht bestätigt“, sagt Martin. Als Beispiel nennt sie die Zuiderzeekrabbe. „Unsere Strandkrabbe braucht sandiges Sediment, sauerstoffreiches Wasser und einen grünen Pflanzengürtel“, sagt sie. „Die neue Art mag schlickigen Untergrund und toleriert Sauerstoffarmut, was ein großer Standortvorteil ist. Außerdem gräbt sie gern Tunnel, die nicht zusammenbrechen dürfen – das ist im Sand nicht möglich.“ Beide Krebse würden also friedlich nebeneinander existieren. Anders sehe das bei der Deutschen Seepocke aus, die an Muscheln, Steinen, Buhnen und anderen festen Untergründen haftet. „Auf die tropische Schwester warten wir hier noch“, sagt die Expertin. Sie zeigt ein Exemplar des wesentlich größeren „Megabalanus“, das per Schiff nach Europa kam. Die Seepocke habe sich an den Rumpf gehaftet und musste in der Werft abgeschlagen werden. „Noch ist es dieser Art zu kalt an der Ostsee“, sagt Martin. „Wenn die sich hier verbreitet, würde sie jeden festen Untergrund zubetonieren. Man stelle sich die Verletzungsgefahr an den Buhnen vor.“ Klimawandel hat Auswirkung: Das Leben in der Ostsee hängt von vielen Faktoren ab. Nicht alle haben mit dem Klimawandel zu tun. „Natürlich begünstigt die Erwärmung der Ostsee die Einschleppung von wärmeliebenden Arten“, sagt sie. „Aber auch die Zerstörung der Lebensräume hat starke Auswirkungen auf unsere heimischen Individuen“, betont Martin. Entscheidend für die Fortpflanzung sei die Temperatur, die auch in der Ostsee zunimmt. „Bis vor Kurzem wusste man nicht, ob sich die chinesische Wollhandkrabbe wirklich in der Ostsee fortpflanzt“, nennt die Biologin ein Beispiel. „2011 hat mein Kieler Kollege in der Kieler Förde eiertragende Weibchen gehabt. Das war eine Sensation.“ Auch die Blaukrabbe, die als Delikatesse gilt, brauche für die Larvenentwicklung 20 Grad. „In Holland und Belgien hat sie ein paar warme Tage“, erklärt Martin. „In der Nordsee gibt es vereinzelte Nachweise, in der Ostsee noch gar nicht. Darauf warten die Fischer hier.“ Der alle zwei Jahre veranstaltete Ostseetag mit seinen vielen Live-Angeboten konnte wegen der Corona-Krise nicht wie geplant Anfang Juni 2020 stattfinden. Damit sein wichtiges Thema, „Klimawandel in der Ostsee“, nicht gänzlich in den Hintergrund tritt, bieten die Organisatoren – das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) mit dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH), dem Deutschen Meeresmuseum Stralsund (DMM) und dem Thünen-Institut für Ostseefischerei (TI-OF) – zusammen mit der OSTSEE-ZEITUNG in diesem Sommer viele Informationen zum Thema. In den nächsten Wochen werden Artikel zu verschiedenen Bereichen des Themas erscheinen. Unter anderem berichten Polarforscher über die Auswirkungen des Klimawandels in der Ostsee, Meeresgeologen blicken zurück auf die Veränderungen der Ostsee in der Vergangenheit, außerdem wird auf die Bedeutung von Schallmessungen, die Überfischung und die Auswirkungen für die Tier- und Pflanzenwelt eingegangen. 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