75 Jahre Kriegsende: Zwei Schiffe in der Lübecker Bucht werden zur Todesfalle

Knapp 10.000 Häftlinge befanden sich noch im Hamburger KZ Neuengamme, als in den letzten Kriegstagen Ende April 1945 die Räumung des Lagers begann. Die SS wollte verhindern, dass die Gefangenen den Alliierten in die Hände fielen, denn sie waren Zeugen der Gräueltaten in den Konzentrationslagern. In Güterzügen wurden sie nach Lübeck gefahren und dort auf den ehemaligen Luxusdampfer „Cap Arcona“ sowie auf die Frachter „Athen“ und „Thielbek“ gebracht. Rund 9.000 Häftlinge trieb die SS auf die Schiffe. Möglicherweise sollten sie als Faustpfand für die Verhandlungen mit den Briten dienen. So begann eine der größten Schiffstragödien der Welt: Rund 7.000 KZ-Häftlinge kamen vor 75 Jahren in der Lübecker Bucht ums Leben, als britische Bomber am 3. Mai 1945 die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ unter Feuer nahmen. Doch es waren nicht unbedingt die Treffer, die zum Untergang der Schiffe führten. Nach neueren Erkenntnissen könnte die SS den britischen Angriff genutzt haben, um die „Cap Arcona“ zu sprengen. Wer sie Explosionen überlebte, ertrank in der kalten Ostsee: Für das britische Militär war die Lage in der Ostsee in den letzten Kriegstagen trotz Luftbild-Aufnahmen und Spionage unübersichtlich. Die Häfen Lübeck und Wismar wurden nicht mehr bombardiert, weil das Rote Kreuz von dort einstige KZ-Häftlinge nach Schweden bringen wollte. Bekannt war den Briten auch, dass sich mit der „Cap Arcona“ ein schwimmendes KZ in der Lübecker Bucht befand. Die entsprechende Nachricht gelangte allerdings nicht bis zur angreifenden Fliegerstaffel. Am 3. Mai gegen 14.30 Uhr wurde neben anderen Schiffen auch die „Cap Arcona“ von britischen Bombern angegriffen. Sie fing Feuer und kenterte, auch die „Thielbek“ sank. Nur die „Athen“ konnte in den Hafen von Neustadt einlaufen. Wer die Explosion überlebte, starb zumeist in der fünf Grad kalten Ostsee. Lediglich 600 Menschen überlebten den Angriff. Die SS hat die Katastrophe geplant: Lange Zeit war der genaue Hergang der Tragödie unklar. Doch nach Recherchen von Wilhelm Lange, Leiter des Arcona-Museums in Neustadt, ist die „Cap Arcona“ von der SS während des britischen Angriffs gesprengt worden. Schließlich hatte Reichsführer-SS Heinrich Himmler noch im April befohlen, dass kein KZ-Häftling den Alliierten lebend in die Hände fallen dürfe. So hatte die SS zuvor die automatischen Schotten und Feuerlöscheinrichtungen auf der „Cap Arcona“ unbrauchbar gemacht. Zeugen berichteten später, dass die Fluchtwege versperrt waren. Lange: „Kein einziges Rettungsboot war einsatzfähig.“ Er geht davon aus, dass nach den ersten Treffern Treibstoffgase gezündet wurden. Dafür waren die vorher leeren Treibstoffbunker gering befüllt worden. Britische Untersuchungen hätten gezeigt, dass der Bereich, wo das Schiff explodierte, von Bomben gar nicht getroffen worden war. Schon auf den Schiffen litten die Menschen Qualen: Der Historiker Herbert Diercks, ehemaliger Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, geht davon aus, dass die Schiffe als provisorisches KZ genutzt werden sollten. Auch die Historikerin Karin Orth kommt zu dem Schluss, dass die SS die KZ-Häftlinge auf den Schiffen in der Gewalt behalten wollte. Die Zustände auf der völlig überfüllten „Cap Arcona“ waren katastrophal, viele Häftlinge starben schon an Bord aufgrund der Mangelernährung und der schlechten hygienischen Zustände. Anders als die „Cap Arcona“ blieb die benachbarte „Thielbek“ von Bombentreffern weitgehend verschont. Nach Langes Recherchen wurde der Frachter von der Druckwelle der Arcona-Explosion erfasst. Er kenterte vermutlich durch die in Panik geratenen Menschen, die den Schwerpunkt des Schiffes verlagerten, so dass die Lasten verrutschten. 200 Menschen retten sich ans Ufer – und werden erschossen: Unabhängig von der Schiffstragödie wurden am Morgen des 3. Mai bei Neustadt mehr als 200 KZ-Häftlinge aus Stutthof bei Danzig ermordet, darunter auch Frauen und Kinder. Sie sollten mit Lastkähnen zur „Cap Arcona“ gebracht werden. Nachdem ihre SS-Bewacher geflüchtet waren, retteten sie sich ans Ufer. Aufgebrachte Anwohner, Marine-Soldaten und Mitglieder des Volkssturms erschossen sie dort. Die „Athen“ kapitulierte und lief mit etwa 2.000 KZ-Häftlingen in den Hafen von Neustadt ein. Am Abend des 3. Mai erreichten britische Panzer Neustadt und beendeten den Krieg in dem Ostseeort. Heute erinnern Gräber, Ehrenmale und Gedenksteine in den umliegenden Gemeinden an die Opfer, darunter in Grömitz, Timmendorfer Strand, Niendorf und Neustadt auf holsteinischer Seite sowie auf der Insel Poel, in Grevesmühlen und Klütz auf mecklenburgischer Seite. Zum Jahrestag wird hier in der Regel der Opfer gedacht. In diesem Jahr fallen die öffentlichen Gedenkfeiern jedoch aus. Von RND/epd