Abgesagte Klassenfahrten: Jugendherbergen in MV kämpfen ums Überleben

Matratzen liegen hoch übereinander gestapelt in einer Ecke, unbenutzte Bettdecken und Kissen warten auf ihren nächsten Einsatz. Davor steht Martin Schröter, Chef der Jugendherberge „100 Haus“ in Wolgast, und macht trotz allem ein optimistisches Gesicht. „Wir sind Kummer gewohnt“, sagt der 56-jährige Unternehmer. Wie es derzeit aussieht, dürften Matratzen, Kissen und Decken aber noch eine Weile unbenutzt bleiben. 2020 war ein sehr schlechtes Jahr für die Herbergen, die von Klassenfahrten und Jugendfreizeiten leben. Die Aussichten für 2021 sind nicht viel besser. Während im vergangenen Sommer die meisten Hotels ausgebucht war, blieben viele Jugendhäuser leer. Wie angespannt die Situation ist, zeigen aktuelle Zahlen des Statistischen Landesamtes für 2020. Hotels und Pensionen vermieteten von Januar bis Oktober 13 Prozent weniger Betten als im Vorjahr. Bei den Jugendherbergen ist der Gäste-Schwund mit 55 Prozent mehr als viermal so hoch. Lesen Sie auch: Ausgangssperre in Neubrandenburg: Unterwegs in einer menschenleeren Stadt Europas beliebtester Campingplatz liegt in Kühlungsborn: „Wir sind so stolz“ Saison 2021 bereits abgehakt: Die Aussichten sind kaum besser. „2021 ist eigentlich schon gelaufen“, sagt Schröter. Schulen, Vereine und Veranstalter sind verunsichert halten sich mit der Planung von Gruppenfahrten zurück. Spontanreisen sind in diesem Bereich unüblich. Die üblichen Vorbuchungszeiten betragen ein halbes Jahr und mehr. Schulen im MV müssen ihre Klassenfahrten sogar im November des Vorjahres bei den Behörden anmelden. Auch die 14 Herbergen des Deutschen Jugendherbergsverbands in MV leiden unter der Ebbe. „Es gibt einen absoluten Einbruch, das lässt sich nicht so schnell zurück holen“, sagt Sprecherin Miriam Gedrose. Noch liegen die Reservierungszahlen lediglich 20 Prozent unter denen des Vorjahres. Der Verband rechnet aber mit vielen Absagen in den kommenden Wochen, wenn die Vorreservierungen eigentlich „scharf geschaltet“ werden müssten. Kurzarbeiter-Geld verhinderte Insolvenz: Martin Schröter versucht in Wolgast das Beste aus der Situation zu machen. Das „100 Haus“, eine 120 Jahre alte Schule, die er kaufte, aufwendig umbaute und 2018 als Jugendherberge eröffnete, dient jetzt vorübergehend wieder als Schule. Die freie evangelische Schule in Wolgast, die dringend Räume brauchte, unterrichtet in den fantasievoll dekorierten Räumen ihre Grundschüler. 2022 sollen hier dann wieder Kinder und Jugendliche aus Brandenburg, Berlin und Sachsen ihre Klassenfahrten und Freizeiten verbringen. „Wir haben kein dickes Polster“, sagt Schröter. Die Gruppenreisen-Saison dauert nur sechs Monate. Wie alle Anbieter in der Branche fahre der Betrieb im Winter auf Sparflamme. „Im März sind wir nur noch ein Gerippe, weil das Geld ja im Sommer verdient wird.“ Corona brachte dieses Geschäftsmodell ins Wanken. Schröters Betrieb bekam 15 000 Euro Soforthilfe vom Staat. Wichtiger war das Kurzarbeitergeld für die acht Mitarbeiter. „Ohne das hätte ich gleich am ersten Tag des Lockdowns beim Amtsgericht Insolvenz anmelden müssen“, sagt der Geschäftsführer. Pleitewelle befürchtet: Für regelmäßige Einnahmen sorgt das „Postel“, das ebenfalls zu dem Wolgaster Unternehmen gehört. Das Hotel und Hostel mit Ferienwohnungen in der ehemaligen Kaiserlichen Post liegt gut drei Minuten Fußweg vom „100 Haus“ entfernt und war auch im vergangenen Coronasommer gut gebucht. Sollten sich für die bevorstehende Saison noch Jugendgruppen anmelden, will Schröter diese in seinem großen „Postel“ unterbringen und dafür einen großen Veranstaltungsraum zu einer Art Abenteuer-Schlafraum umrüsten. 99 „Jugendherbergen und Hütten“ gibt es laut amtlicher Statistik in MV zurzeit. Miriam Gedrose vom Deutschen Jugendherbergsverband MV geht davon aus, das längst nicht alle die Krise überleben werden. Um seine eigenen Häuser noch halbwegs auszulasten, schichtete das gemeinnützige Unternehmen Buchungen zwischen den einzelnen Herbergen um. Der Umsatzverlust für das vergangenen Jahr beträgt nach vorläufigen Berechnungen sieben Millionen Euro. Das Defizit von 700 000 Euro glich der für solche Zwecke eingerichtete Sozialfonds des Landes aus. Sprecherin Gedrose weist auf die sozialen Folgen der abgesagten Fahrten und Freizeiten hin: „Für viele Kinder ist das Möglichkeit, überhaupt eine Ferienreise zu machen.“ In der Landespolitik gibt es unterdessen Streit um die Unterstützung des Kinder- und Jugendtourismus. Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern aus den Schweriner Ministerien, die ein Konzept für diesen Bereich weiterentwickeln sollten, kommt offenbar nicht voran. Ein für 2020 geplantes Treffen wurde wegen den beiden Lockdowns im Frühjahr und im Winter abgesagt, so die offizielle Begründung. Henning Förster, tourismuspolitischer Sprecher der Linken, findet das absurd. „Hat die Landesregierung noch nie etwas von Video- und Telefonkonferenzen gehört?“, fragt der Politiker. Von Gerald Kleine Wördemann