Corona-Krise: Physiotherapeuten in MV plötzlich ohne Patienten

Seit Tagen schläft Nadine Simon schlecht. „Viele Leute sagen ihre Termine bei uns ab“, sagt die selbstständige Physiotherapeutin und Osteopathin aus Greifswald. „Durch die Corona-Krise sind Patienten unsicher und kommen nicht mehr in die Praxis, Neu-Patienten gibt es momentan kaum noch.“ Mit der Folge, dass es nur noch wenig zu tun gibt. Vielleicht nur noch zwei Stunden am Tag, schätzt die 37-Jährige, die vier Angestellte hat. Dabei könnten Patienten, die nicht zur Risikogruppe zählten oder mit dem Coronavirus infiziert seien, weiterhin ihre Behandlung bekommen. „Aber so, wie es jetzt ist, verdienen wir kein Geld.“ Doch die Kosten laufen weiter. Für die Praxis, für jeden Mitarbeiter persönlich auch. Ein Dilemma, das insbesondere Selbstständige trifft und in existenzielle Sorgen stürzt (nicht nur in dieser Branche). Matthias Paulsen, Landesgruppenvorsitzender vom Verband Physikalische Therapie (VPT), sagt: „Die Physiotherapeuten gehören zur kritischen Infrastruktur, sind also systemrelevant.“ Gleichwohl weiß er, das die selbstständigen Physiotherapiepraxen, 650 gibt es davon in Mecklenburg-Vorpommern, zunehmend weniger Einnahmen haben. Paulsen selbst hat drei Praxen mit 25 Mitarbeitern im Schweriner Raum. „Ein realistisches Bild vom Umsatzrückgang werden wir erst in zwei bis drei Wochen haben“, meint der 57-Jährige. Er rechnet bis August mit „existenzbedrohlichen Zeiten“. Deshalb hat er schon einige Dienstleistungen, mit denen andere Firmen betraut waren, wie Reinigung oder Buchhaltung, zurückgeholt. „Wir machen zum Beispiel jetzt selbst unsere Praxisräume sauber.“ Um zu sparen und um die eigenen Leute zu halten. Außerdem gibt es ab 1. April in seinen Praxen in großem Umfang Kurzarbeit, „wir halten aber unsere Praxen bis zum Ende der Krise offen“. Nicht-Behandlung ist schlecht für Patienten: Ulrike Holz-Gräfe (34) ist seit zehn Jahren selbstständige Physiotherapeutin in Rostock. „80 Prozent der Patienten sagen derzeit ihre Termine ab“, bestätigt sie den Trend. Dabei sei das für einen Teil der Patienten nachteilig. „Zum Beispiel gibt es nach Verletzungen oder nach einer Operation schlechtere Heilungsverläufe, wenn nicht therapiert wird.“ Man komme später wieder ins Arbeitsleben und ältere Menschen werden gar bettlägerig. „Eine spätere Reaktivierung ist dann sehr aufwendig“, meint die Physiotherapeutin, die 13 Mitarbeiter an zwei Standorten hat. „Außerdem resultiert aus einer späteren Behandlung ein erhöhter Bedarf an Rezepten und es sind dann ja auch nicht mehr, vielleicht eher weniger Kapazitäten vorhanden“, gibt sie zu bedenken. Auch Logopäden trifft der Stillstand durch die Corona-Pandemie hart. Susan Kuchenbecker aus Rostock behandelt neben Sprachfehlern unter anderem auch etwa Schluckstörungen bei Behinderten oder bei Patienten nach Schlaganfällen oder Operationen. „Wie die Physiotherapeuten behandle auch ich Patienten in Pflegeeinrichtungen, die ich jetzt nicht mehr erreiche“, sagt die 45-Jährige. „Jetzt passiert Folgendes: Je nach Fall werden Rückschritte bei den Patienten auftreten, die bisherigen Erfolge werden spätestens nach zwei Wochen Nichtbehandlung hinfällig.“ Es ist wie beim Sport: Wer aufhört zu trainieren, verliert seine Fähigkeiten. Dazu die große Sorge, als Betrieb nicht zu überleben. „Uns trifft es nicht morgen, aber im dritten Monat ist Feierabend, wenn sich die kritische Lage nicht ändert.“ Matthias Paulsen vom Verband der Physiotherapeuten hofft, dass die Politik Programme auflegt, die den Praxen Unterstützung geben. „Allein dadurch, dass wir nicht mehr in die Pflege- und Behinderteneinrichtungen und Altenheime kommen, um Patienten zu behandeln, haben wir im Schnitt einen Einnahmen-Ausfall von bisher rund 20 Prozent“, so Paulsen. Nadine Simon aus Greifswald wünscht sich, dass von behördlicher Seite die Anordnung kommt, alle Praxen zu schließen. „Dann könnten wir bei staatlichen Stellen Entschädigungsleistungen erhalten.“ Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die selbstständigen Physiotherapeuten wirtschaftlich ausbluten. Spätestens in zwei bis drei Wochen werden die Verluste richtig durchschlagen, schätzen die Physiotherapeuten. Wie viele Praxen es noch geben wird, wenn die Corona-Krise vorbei sein sollte, weiß niemand. „Einen Monat halten wir noch gut durch“, sagt Nadine Simon. „Nach zwei Monaten wird es kritisch. Im dritten Monat werden viele nicht mehr existieren können und schließen.“ Wenn es keine Hilfen gibt. Matthias Paulsen hofft zumindest auf eine Durchschnittsvergütung der Physiotherapeuten vom Land. „Es gibt bereits den Vorschlag, diese Kosten im Haushalt zu beachten.“ Der Verband der Logopäden, „Logo Deutschland“, schreibt in einem offenen Brief, dass Gelder für „Überbrückungszahlungen im Sinne einer Bereitstellungsgebühr zum Ausgleich von Umsatzverlusten ... im Heilmittelbudget“ bereitstehen. Als eine von mehreren Sofortmaßnahmen müssten diese Gelder allerdings nun auch an die Praxen fließen, damit deren Inhaber und Mitarbeiter die gegenwärtige Ausnahmesituation bewältigen, so der Tenor. Das Wirtschaftsministerium in Schwerin konnte dazu bislang keine Aussage machen. 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