Am Tag nach der grauenhaften Bluttat sind die Bewohner des Rostocker Neubauviertels Dierkow entsetzt: Ein 40-jähriger Mann hatte am späten Samstagabend auf ein drei Monate altes Baby eingestochen und sich dann selbst vom Balkon im fünften Stock in den Tod gestürzt. Der Säugling schwebte am Sonntag noch in akuter Lebensgefahr. Die Hintergründe des Dramas sind noch unklar, die Polizei schließt jedoch eine Beziehungstat nicht aus.
Laut Polizei wurden die Einsatzkräfte am Sonnabend kurz vor Mitternacht in eine Wohnung im Kurt-Schumacher-Ring gerufen. Augenzeugen berichten von lauten Schreien und Geräuschen, die vom Balkon hallten. Der 40-Jährige hielt das blutende Baby auf dem Arm und drohte, es vom Balkon zu werfen. Die Polizisten kamen zunächst nicht in die Wohnung, weil die Tür mit einer Waschmaschine versperrt war. Daher breiteten die Beamten unter dem Balkon ein provisorisches Sprungtuch aus Decken aus. Währenddessen warf der 40-Jährige immer wieder Gegenstände auf sie.
Kopfüber in die Tiefe gestürzt
Blutüberströmt setzte sich der Mann dann auf den Balkon und drohte weiter. Schließlich gelang es der Polizei mit Gewalt, in die Wohnung zu kommen. Ein Polizist griff nach dem Angreifer und versuchte noch, ihn vom Sprung abzuhalten, was ihm jedoch nicht gelang. Der Mann stürzte kopfüber in die Tiefe und blieb leblos liegen. Rettungskräfte versuchten minutenlang, ihn zu reanimieren, jedoch ohne Erfolg.
Der Säugling wurde im Krankenhaus notoperiert. Die Mutter erlitt einen schweren Schock und war zunächst nicht vernehmungsfähig. Die 18-Jährige soll die Ex-Partnerin des Mannes sein. Zudem war in der Wohnung ein Neunjähriger, er soll der Sohn des Mannes aus einer anderen Beziehung sein.
Immer wieder Schreie aus der Wohnung
Nachbarn berichten, dass der Mann vor der Tat gerufen haben soll: „Du hast mein Leben zerstört, jetzt zerstöre ich deins.“ Immer wieder seien auch schon in den letzten Tagen Schreie aus der Wohnung zu hören gewesen sein. Wie es hieß, soll sich die 18-Jährige erst kürzlich von dem Mann getrennt haben, was dieser nicht verkraftet habe.
Am Sonntagmorgen ist in Dierkow zwar Ruhe eingekehrt, Blutspritzer am Balkon erinnern jedoch an das schreckliche Geschehen der Nacht. Eine junge Frau kommt vorbei und schaut mit betroffenem Blick hinauf. Sie kennt die Beteiligten. „Es war auf keinen Fall eine Beziehungstat“, ist sie sich sicher. Mehr will sie aber nicht sagen, auch ihren Namen nennt sie nicht.
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Soziale Probleme im Viertel
Nachbarin Danila Agajewa spielt mit ihren drei kleinen Kindern auf dem Spielplatz neben dem Wohnblock. Sie ist entsetzt von der Tat. Die Hintergründe kennt auch sie nicht, beschreibt aber ihre Eindrücke aus dem Viertel: „Viele Menschen hier haben zu wenig Erfahrung mit der Erziehung und trinken, obwohl sie Kinder haben.“
Auch Kristina S. kann sich vorstellen, dass die teils schwierigen sozialen Verhältnisse in Dierkow mit der Tat zu tun haben könnten: „Es gibt hier viele sozial Benachteiligte, Sucht und Arbeitslosigkeit sind ein großes Thema“, sagt sie. Es gebe zwar viele Hilfsangebote, „aber diese Menschen zu erreichen ist schwierig.“
Große Betroffenheit
Sebastian Engel wohnt im Nachbarhaus. „Das macht mich sehr betroffen, weil ich selbst eine kleine Tochter habe. Das ist manchmal sehr nervig und stressig, aber darüber muss man sich im Klaren sein, wenn man Kinder in die Welt setzt.“
Rostocks Sozialsenator Steffen Bockhahn (Linke) betonte jedoch: „Solche Taten haben nichts mit dem sozialen Status oder der Wohnanschrift zu tun.“ Ihn mache sprachlos, was in Dierkow passiert ist. „Es bleibt nur die Hoffnung, dass es den Ärzten gelingt, das Baby zu retten und den Angehörigen, das Geschehene zu bewältigen.“
Viele Todesfälle nach Trennungen
Laut Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, steht laut Studien ein Viertel aller Todesfälle bei Kindern durch Mord oder Totschlag in Zusammenhang mit einer Trennung der Eltern oder Erziehungsberechtigten. „Wir brauchen mehr Sensibilität bei den Jugendämtern, Familiengerichten und bei der Polizei, auch an eine derartige Eskalation nach einer Trennung zu denken, um dann so schnell wie möglich vorbeugend tätig zu werden“, fordert Becker. „Wir werden nie alle Risiken ausschließen können, aber wir sollten alles dafür tun, in unserer Risikoeinschätzung deutlich besser zu werden.“
Stefan Tretropp und Axel Büssem