Inzidenz in Vorpommern-Greifswald über 200? Grüne fordern Aufklärung

Der Streit um möglicherweise manipulierte Inzidenzwerte in Vorpommern-Greifswald spitzt sich zu. Nach Berechnungen von verschiedenen Wissenschaftlern bewegt sich die Sieben-Tage-Inzidenz im Kreis mittlerweile deutlich über einen Wert von 200. Demnach würde der Kreis als Hochrisikogebiet gelten. Am 25. März sei eine Inzidenz von 118,0 durch Landkreis und Lagus gemeldet worden. Einschließlich der verzögert nachgemeldeten Fälle, die beim RKI auflaufen, habe der tatsächliche Wert aber bei 201,6 gelegen, sagte Hannes Damm, Kreisvorsitzender der Grünen. Verstoß gegen Infektionsschutzgesetz? Die Grünen werfen der Kreisverwaltung unter Landrat und CDU-Landeschef Michael Sack vor, Zahlen systematisch verzögert zu melden, um damit Öffnungen von Schulen, Kitas sowie im Handel und bei Dienstleistungen in eine sich zuspitzende Infektionslage zu ermöglichen. Damit werde die Gesundheit vieler Menschen gefährdet. Die Kreistagsfraktion der Grünen forderte Innenminister Torsten Renz (CDU) und Sozialministerin Stefanie Drese (SPD) auf, Untersuchungen und gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren gegen Sack und die verantwortlichen Mitarbeiter einzuleiten. Die Fraktion sieht einen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz. Das Infektionsschutzgesetz verpflichtet Gesundheitsämter zur Weitermeldung von Fällen „spätestens am folgenden Arbeitstag“. Grüne fordern Aufklärung durch Ministerium: „Wir stehen am Anfang der dritten Welle, wir können uns keine falschen Angaben durch die Verantwortlichen leisten“, sagte der Spitzenkandidat der Grünen bei der Landtagswahl, Harald Terpe. In Vorpommern-Greifswald dauere die Meldung der Fälle sechs mal länger als im Bundesdurchschnitt. Der Meldeverzug in Vorpommern-Greifswald hat zudem nach Angaben der Grünen auch drastische Auswirkungen auf die Landesinzidenz, die deutlich über 100 liegen würde. Der Meldeverzug müsse abgebaut werden, weil sich auch die Isolation der betroffenen Kontaktpersonen verzögere, sagte Fraktionschefin Ulrike Berger. „Die Bewohner des Kreises werden in falscher Sicherheit gewiegt.“ Diskrepanz zwischen der tagesaktuell gemeldeten Sieben Tage-Inzidenz in Vorpommern-Greifswald und der mit den nachgemeldeten Fällen Quelle: Grüne MV Abweichungen werden immer größer: Ein Wissenschaftlerteam aus Rostock und Greifswald, dem auch der Physiker und Grünen-Politiker Damm angehört, hatte für Vorpommern-Greifswald seit Mitte Februar zunehmende Abweichungen zwischen den tagesaktuell gemeldeten Inzidenzen und dem tatsächlichen Wert festgestellt, der sich erst durch die zeitlich verzögerten Nachmeldungen ergeben. Inzwischen lägen die Abweichungen bei 170 Prozent. Lesen Sie auch Vorwurf der Grünen: Trickst Landrat Sack bei den Inzidenz-Werten? Vorpommern-Greifswald: Abstrichzentren über Ostern geöffnet Shoppen mit Negativ-Test: So sehen das Händler in Wolgast und auf Usedom Werden Fälle erst vier Tage nach Feststellung der Infektion gemeldet, gehen sie nur noch für drei Tage in die Sieben-Tage-Inzidenz ein. Würden Fälle erst nach sieben Tagen nachgemeldet, gehen sie überhaupt nicht mehr in den Wert ein. Damit werde der für Kontaktbeschränkungsmaßnahmen wichtige Wert künstlich nach unten gedrückt. IT-Spezialist: Diskrepanzen sind „grotesk“: Auch die Systeon GmbH, ein auf Datenanalyse spezialisiertes Unternehmen aus Rostock, war unabhängig von dem Wissenschaftlerteam auf die Diskrepanz bei den Zahlen gestoßen, die es so landesweit nur in Vorpommern-Greifswald gibt. Der Kreis meldete für den 26. März eine Inzidenz von 124,8. Mit den nachgemeldeten Fällen lag sie nach Angaben von Systeon bei 202,9. „In dem Umfang sind die Diskrepanzen grotesk“, sagte der Datenanalyse-Spezialist Olaf Gschweng von der Systeon GmbH. „Diese Diskrepanzen legen den Verdacht einer Manipulation nahe.“ Auch das Portal Risklayer, in dem die Fälle nicht nach Melde- sondern nach Eingangsdatum ausgewiesen werden, meldete für Mittwoch eine Inzidenz von 222 für den Kreis. Offiziell lag sie bei 93,8. Kreis weist Vorwürfe der Manipulation zurück: Die Kreisverwaltung hatte die Vorwürfe einer Manipulation zurückgewiesen, aber eingeräumt, dass man die Auffälligkeiten auch sehe. Tage später erklärte der Kreis, die hohe Zahl der nachgemeldeten Fälle mit einem aufwendigeren Meldeverfahren, welches das Lagus dem Kreis zum Jahreswechsel vorgegeben hatte. Dem sei nichts weiter hinzufügen, sagte ein Kreissprecher in Reaktion auf die erneute Grünen-Kritik. Von Landrat Michael Sack, Spitzenkandidat der CDU für die Landtagswahl, gab es bislang trotz mehrfacher Anfragen keine Stellungnahme zu den Vorwürfen. Das Lagus teilte auf OZ-Anfrage mit, dass alle Kreise und kreisfreien Städte in Mecklenburg-Vorpommern zu diesem verfeinerten Meldeverfahren aufgefordert wurden. Damit kann das veränderte Meldeverfahren nicht der Grund für die landesweit einmaligen Auffälligkeiten sein. Von Martina Rathke