Mehr als 40 Jahre seines Berufslebens verbrachte Fritz Witt (87) auf seiner Lok. Doch nie wieder erlebte der Eisenbahner je etwas derart Schreckliches wie im Winter 1979. „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens“, sagt der Stralsunder heute.
Es ist der 14. Februar 1979. Zum zweiten Mal in diesem Winter schlägt das Wetter gnadenlos zu. Schneemassen, Eis, Sturm. Das Dramatische damals: Der Schnee des erstens heftigen Wetterumschwungs ist noch nicht weggetaut. Auf den alten Bergen türmt sich bald neuer Schnee auf.
Die Männer bei der Bahn stehen unter Dauerstrom und Stress. Immer wieder rücken sie aus, um Kollegen und Reisende, die mitten im Nirgendwo feststeckten. „Wir kamen in Winter kaum zu Hause aus unseren Stiefeln raus, da wurden wir zum nächsten Einsatz gerufen“, erinnert sich der Rentner heute.
Als er am 14. Februar um 9 Uhr zum Dienst antritt, übernimmt er einen russischen Güterzug mit 928 Tonnen Last am Bahnhof Miltzow. Er soll in Richtung Sassnitz zur Fähre nach Schweden gebracht werden. Zu dem Zeitpunkt muss er bereits mit zwei Loks fahren, um mehr Power zu haben. Die Schiebelok wird unterwegs allerdings abgehängt, weil ein Personenzug Hilfe braucht. Fritz Witt ist nun auf sich und seine Lok gestellt. Er soll einen Kollegen mit seiner festgefahrenen Lok befreien. Doch auf dem Weg dahin bleibt er zwischen Sagard und Lietzow selbst im Schnee stecken. 120 Meter vor dem Ziel geht es nicht mehr vor oder zurück. Sieben Meter hoch türmen sich die Schneewehen rechts und links vom Zug. „Ich habe dann meine Lok sturmfest gemacht. Inzwischen war ich 18 Stunden im Dienst und habe mir mein Nachtlager zurecht gemacht. Allein dort festzusitzen, das war sehr hart“, sagt der Stralsunder.
Nachts kommen fünf NVA-Soldaten auf Skiern vorbei, bringen dem 47-Jährigen Tee, Knäckebrot, Butter und Bockwurst. Die Hiobsbotschaft: Eine Rettung muss aufgrund der Wetterlage auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Am frühen Morgen kämpft sich der zweite festgefahrene Lokführer zu Fritz Witt durch, sie teilten sich ihre wenigen Essensvorräte genau auf – „wir wussten ja nicht, wie lange wir ausharren müssen.“ Ein Rügener Bauer bringt Kohleintopf und Kaffee. Davon müssen die Männer weitere Tage zehren. Um die Lok zwischendurch auch mal zu verlassen, kriecht der Lokführer und Hobbyfotograf durch den Schornstein im Dach der Lok.
Dann nach Tagen des Wartens die ersehnte Hilfe: 200 Soldaten rückten an, um den Zug vom Schnee zu befreien. Fünf Tage nach dem Unglück ist Fritz Witt wieder zu Hause. Gesundheitlich völlig angeschlagen, durch die Kälte, das gefrorene Essen und wenig Schlaf. „Er war vollkommen am Ende und sackte zu Hause weinend zusammen“, erinnert sich Ehefrau Helga.
Auch für sie und ihre Tochter seien diese fünf Tage 1979 schrecklich gewesen. „Es gab keinerlei Verbindung zu ihm, keiner konnte mir sagen, wo er ist. Ich habe tagelang Ängste ausgestanden, ich wusste ja nicht, ob wir uns je wiedersehen“, sagt die 80-Jährige.
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Virginie Wolfram