Stralsunderin recherchiert Schicksal jüdischer Familie und findet weltweit Nachkommen

Heilgeiststraße 89 in Stralsund. Hier ist ein Knotenpunkt der Geschichte vereint, der auf das deutsche Schicksalsdatum 9. November verweist. Reichspogromnacht 1938. Fall der Mauer 1989. Das Haus in der Heilgeiststraße 89 wurde 1700 als Bürgerhaus erbaut. Bis zum Naziterror lebte dort Familie Blach. An der barocken Fassade war das Schild „Lederwaren Gebr. Blach“ zu lesen. 1883 war Lederwarenhändler Julius Blach in das Haus gezogen. Bis 1934 gehörte das Haus seinem Sohn, dem Rechtsanwalt Friedrich Blach, Direktor der Wasserwerke Berlin-Charlottenburg. Die Nazis enthoben ihn 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft des Amtes. Blach emigrierte 1937 in die USA. Sein Neffe Carl-Philipp betrieb bis zur Reichskristallnacht das Lederwarengeschäft. Er überlebte Nazi-Deutschland jedoch nur um ein Jahr und starb 1946 an den Folgen der Unterernährung. Familienzweige in USA, England, Israel, Deutschland, Holland, Brasilien: 80 Jahre nachdem die Nazis fast die komplette Familie ausgelöscht haben, ist es der Stralsunderin Friederike Fechner (59) gelungen, ihre Geschichte zu rekonstruieren und Familienzweige, die in den USA unter dem Namen Blake, in Amsterdam unter dem Namen Weishut und in London unter dem Namen Glassman leben, zusammenzuführen. Der Cousin einer Enkelin von Friedrich Blach lebt in Rostock. Diese Menschen, deren Herkunft auf Stralsund zurückgeht, wussten nichts voneinander. Ein weiterer Zweig der Familie lebt in Brasilien. Für dieses Engagement erhält Friederike Fechner am 25. Januar im Berliner Abgeordnetenhaus den Obermayer-Award. Der Preis wird von der US-Stiftung an Menschen verliehen, die sich im Kontext jüdischer Geschichte engagiert haben. In der Präambel der Stiftung heißt es, dass der Preis in mehreren Kategorien an Menschen geht, „die das Gedenken an die jüdische Vergangenheit bewahren, sie dokumentieren und die von den Nationalsozialisten zerstörten jüdischen Gemeinden mit neuem Leben erfüllen.“ Lesen Sie auch: Studie: Continental war in NS-Zeit „Stützpfeiler der Kriegswirtschaft“ Stralsund verleiht Urkunde für Verdienste um Denkmalschutz Eine berührende Familiengeschichte Die Skyline von Stralsund – Liebe auf den Ersten Blick: Dieses Engagement geht bei Fechners auf den 9. November 1989 zurück. Kurz nach dem Mauerfall sehen die freiberufliche Cellistin und der Augenarzt, die aus Hannover stammen und in Hamburg lebten, auf einer Rügenreise die Skyline Stralsunds. Liebe auf den ersten Blick. 1993 zieht Martin Fechner an den Sund, 1994 folgt Friederike Fechner mit den drei Kindern, die heute 33, 30 und 28 Jahre alt sind – ein Enkelkind ist auch schon da. Dr. Martin Fechner ist seit 1993 leitender Augenarzt an der Augenklinik. Friederike Fechner arbeitet als Cellistin und als Musiklehrerin an den Musikschulen Stralsund und Bergen. Sie engagiert sich bei Bündnis 90/Die Grünen und sitzt in der Bürgerschaft der Hansestadt. 2012 kaufen die Fechners das Haus in der Heilgeiststraße. Für die Sanierung werden sie mit einem Bauherrenpreis der Initiative „Rette die Altstadt“ geehrt. Heute vermietet sie dort Wohnungen, im Parterre sind ein Tee- und ein Weinladen. Die Preisträgerin sagt: „Ich hatte für die Rede zur Preisverleihung recherchiert, dass in dem Haus von 1883 bis 1934 Familie Blach gelebt hat. Viel mehr war anfangs nicht herauszukriegen. Bei meiner Rede hat mich das so bewegt, dass ich mir vorgenommen habe, mehr über die Familie zu erfahren.“ Aus Blach in Stralsund wurde Blake in New York: Dieser Aufgabe widmet sie sich seit 2015 mit Liebe, Hingabe und der Disziplin einer klassischen Musikerin. Über historische Kernarbeit und abenteuerliche Umwege ist sie auf den US-Zweig der Familie Blach gestoßen. Vier der Blach-Geschwister sind damals ermordet worden. Nur Friedrich Blachs Weg in die USA, der sich dort in Blake umbenennen ließ, konnte Fechner rekonstruieren. Dort stößt sie auf dessen Enkel Casey Blake, Professor for American Studies an der Columbia University in New York. Sie sagt: „Der war total perplex, weil er annahm, dass seine Familie im Holocaust gestorben sei. Er hatte großes Interesse daran, mehr zu erfahren. Wie in so vielen jüdischen Familien wurde den Nachfahren gegenüber in Bezug auf den Holocaust eisig geschwiegen. Casey wusste nichts von seinen Stralsunder Wurzeln.“ Um dieser Geschichte auf die Spur zu kommen, haben sich Fechners an Andreas Neumerkel vom Stralsunder Stadtarchiv gewandt, hat Sterberegister durchforstet, jüdische Friedhöfe besucht. Casey Blake schrieb ihr später aus New York: „Vielen Dank, Friederike! Du hast uns die Geschichte unserer Familie in Stralsund nahegebracht.“ Professor Blake schrieb ihr auch: „I thought, my German family had all died in concentrations camps ...“ Blake nahm ein Leben lang an, die Nazis hätten seine gesamte Familie ausgelöscht. Come-together im Sommer 2021 mit 50 Blach-Angehörigen am Sund: Besuche folgten – Fechners waren in New York. Caseys Schwester Christina (68), die sich geschworen hatte, niemals einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen, war sogar schon zu Besuch am Sund. Friederike Fechner sagt: „Aus der Familienforschung, die auf die Restaurierung des Hauses zurückgeht, ist entstanden, dass die jüdische Geschichte in Stralsund aufgearbeitet wird.“ Daher wurde am Sund die „Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund“ gegründet. Im August gibt es eine „Blake-Reunion“ am Sund mit Besuchern New York, Boston, Philadelphia, Los Angeles, San Francisco, Amsterdam, London, Hull, Jerusalem und Rostock. Es wird ein Get-together, eine Stadtführung zu Orten der Familie mit Rathausvisite, einen Ausflug nach Hiddensee und ein öffentliches Konzert in einer der Stralsunder Kirchen. Wer am Cello sitzt? Friederike Fechner – Ehrensache! Von Michael Meyer