Geschichten hinterm Ortsschild: Hanffelder in Drogen, Leid in Kummer

Wie lebt es sich in Ortschaften mit außergewöhnlichen Namen? Die LVZ hat sich dazu im Altenburger Land umgesehen und ist in Drogen und Kummer fündig geworden. Die beiden Orte verbindet mehr als nur ihr doppeldeutiger Name. Die kleinen Bauerndörfer sind Ortsteile der Stadt Schmölln. Über den Daumen gepeilt leben rund 80 Einwohner in jeder der Siedlungen, betrachtet man Drogen unabhängig vom Ortsteil Mohlis. Beiden ist zudem gemein, dass sie von Windkraftanlagen tangiert werden. Kummer am Köthelbach: Das Dörfchen Kummer liegt auf einer Anhöhe am Köthelbach, südöstlich von Schmölln. Der Sage nach geht seine Gründung auf ein tödliches Zusammentreffen zwischen Grafensohn und wildem Eber im 12. Jahrhundert zurück. Es sollen die letzten Worte des sterbenden Ortwin gewesen sein, die den Anstoß zur Ortsgründung gaben: „Ach Himmel, wie muss ich doch hier in solchem Kummer und Elend umkommen!“ Der Vater des Verblichenen, der Schmöllner Graf Bruno, ließ der Überlieferung nach eine Kapelle und einige Häuser an der Unglücksstelle errichten und nannte den Ort Kummer. Schenkt man der Sage Glauben, dann könnte Kummer heute auch Elend heißen. Slawisch für Mücke: Die erste urkundliche Erwähnung des Dorfes fällt ins Jahr 1291 – ganze 119 Jahre nach der Geschichte mit dem Wildschwein. Damals hieß das Dorf Cumere. Namensforscher Jürgen Udolph zufolge sieht der Ortsname heute zwar aus wie das deutsche Wort Kummer, habe damit aber nichts zu tun. Man dürfe darin das slawische Wort für Mücke sehen, also ein mückenreicher Ort. Seit 1950 gehört das Straßendorf zur Stadt Schmölln. „Kummer ist wie eine Verkehrsinsel.“: Für Torsten Pröhl ist der Name Kummer keineswegs Programm. Der 50-Jährige hat hier mit Ehefrau Kathrin das richtige Fleckchen Erde gefunden. Auch wenn der eingefleischte Naturschützer über die Lage des Dorfes nicht besonders glücklich ist, weil die Landesstraße den kleinen Ort förmlich umzingelt. „Kummer ist wie eine Verkehrsinsel. Man kommt weder zu Fuß noch mit dem Rad raus aus dem Dorf.“ Auch führt der einzige Feldweg laut Torsten Pröhl ausgerechnet zu den zehn Windrädern, die keinen Kilometer vom Ort entfernt stehen und bei ungünstigem Wind zu hören sind. Drei Hektar grüne Oase: Familie Pröhl lebt trotz all dem gern in Kummer – dank drei Hektar grüner Oase, die sie ganz nach ihrem Sinn gestaltet hat. Das Wohnhaus ist eine flache umgebaute LPG-Baracke, die verwunschen unter Bäumen inmitten von Streuobstwiesen liegt, umgeben von Teich und Natursteinmauern. Von der Asbestbaracke zum naturnahen Refugium: Das günstige Anwesen lockte den Schmöllner und seine Frau 1995 ins Dorf. Familie Pröhl verwandelte das LPG-Büro mit Leichtbauwänden aus Asbest in ein naturnahes Refugium aus Lehm und Holz. „Wir waren jung und haben uns einfach ins kalte Wasser gestürzt“, blickt Torsten Pröhl zurück. 1997 wurde ihnen die Firma Naturschutzbedarf Strobel zur Übernahme angeboten. Seither produzieren sie Nistkästen, Fledermausquartiere und Insekten-Nistblöcke aus Holzbeton. Mini-Gewerbegebiet ohne Landversiegelung: Ein bisschen stolz ist Torsten Pröhl auf das Kummersche Mini-Gewerbegebiet, wie er es nennt. „Dafür musste nicht ein Quadratmeter Land versiegelt werden.“ Es ist ein ehemaliges Gehöft, das von drei Firmen als Lager, KFZ-Werkstatt und Produktionsstätte genutzt wird, inklusive Pröhls Naturschutzbedarf. Ob die Ortsschilder von Kummer jemals Anlass für Diebstahl waren, weiß er nicht zu sagen. Allerdings habe im vorigen Jahr eines der Schilder eine Zeit lang gefehlt. „Früher, da war ein Zusammenhalt!“: Die einstige Wirtin von Kummer, Anita Kaufmann, trauert den alten Zeiten hinterher. Es sei gar nicht mehr so schön im Dorf. „Heute ist es entschieden zu ruhig. Früher waren wir eine Familie, das war ein Zusammenhalt. Heute macht jeder seins für sich.“ Die 88-Jährige vermisst vor allem die Dorffeste. Seit sie ihren Gasthof vor vier Jahren geschlossen hat, fand das Fest nur noch ein einziges Mal statt. „Die Alten, die beim Aufbau immer geholfen haben, sind weggestorben und die Jungen haben kein Interesse daran.“ Rehbraten und Wildschwein für ganze DDR-Brigaden: Der Dorfgasthof Kummer sei früher sehr beliebt gewesen, erinnert sich Anita Kaufmann noch lebhaft. Gemeinsam mit ihren zwei Söhnen habe sie zu DDR-Zeiten ganze Brigaden abgefertigt: mit Rehbraten, Hase und Wildschwein. Für die Vorbereitungen in der Küche blieben ihr nur die Nächte. Wenn der letzte Gast gegangen war, ging es ans Wildhäuten und Zubereiten. „Damals habe ich viel Schlaf eingebüßt.“ „Der Verkaufswagen fehlt uns Alten.“: Heute komme sie nur noch wenig raus. Sie bedauert, dass der große mobile Verkaufswagen mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs seit Ende Dezember nicht mehr ins Dorf kommt. „Das fehlt uns Alten.“ Den Einkaufszettel gibt sie jetzt einem ihrer Söhne mit. „Mädel, wer soll denn hier herkommen?“: Maike und Jörg Probst haben sich vom Namen Kummer nicht abschrecken lassen, als sie vor 20 Jahren mit Kindern und Tieren auf den ehemaligen Reiterhof zogen. Auch die Abgelegenheit des Dorfes machte ihnen nicht Bange. Allerdings kann sich die Tierlehrerin noch gut an mahnende Worte erinnern: „Sag mal Mädel, wer soll denn hier herkommen?“ „Manege frei!“ in kleinem Ort mit traurigem Namen: Allen Unkenrufen zum Trotz hat der Probst-Hof in zwei Jahrzehnten gezeigt, dass auch ein kleiner Ort mit traurigem Namen Gästescharen anlocken kann. Mit viel Kraft und Enthusiasmus hat Familie Probst einen Vorzeigehof aufgebaut: mit Tiershows in der beheizbaren Scheunen-Manege, Kinderspielplatz, Hofcafé und Ferienwohnung. Nachbarschaftshilfe gibts unter anderem von der einstigen LPG-Vorsitzenden Elvira Volke, die mit Vorliebe die Kassendienste übernimmt. Im Gegenzug schiebt Jörg Probst bei ihr Schnee. Osterveranstaltungen im Landkreis explosionsartig gestiegen: Ein garantierter Zuschauermagnet waren immer die Vorführungen an den Osterfeiertagen. „Wir waren gerade zu Ostern die Einzigen, die etwas angeboten haben“, stellt Maike Probst fest. Doch in den letzten fünf Jahren sei die Zahl der Veranstaltungen rund ums Osterfest im Landkreis explosionsartig nach oben geschossen. Das mache sich auch in Kummer bemerkbar. Tiershows in knackigen 20-Minuten-Sequenzen: Auch gleiche sich das Verhalten der Zuschauer zunehmend der digitalen Welt an, erklärt die 56-Jährige. Statt einer Stunde Programm fordere das Publikum heute knackige und intensive 20-Minuten-Sequenzen. Familie Probst ist flexibel und stellt sich mit ihren 20 Tieren immer wieder den neuen Herausforderungen. Vorausgesetzt sie darf es, denn das derzeitige pandemiebedingte Wegbleiben der Zuschauer bereitet ihr großen Kummer. Liebe statt Drogen im Ortsnamen: Das kleine Dorf Drogen, nordwestlich von Schmölln gelegen, gehört erst seit 2019 zur Knopfstadt. Urkundlich erstmals 1140 erwähnt, lautet sein ursprünglich slawischer Name Drogane. In der örtlichen Chronik ist als Bedeutung nachzulesen: Der Ort, durch den eine Straße führt. Da es praktisch keinen Ort ohne hindurchführende Straße gibt, ist wohl eher die Erklärung von Namensforscher Jürgen Udolph nachvollziehbar. Ihm zufolge leitet sich der Name des Ortes von einem slawischen Personennamen ab, dessen Wortstamm „drog“ so viel wie „lieb“ bedeutet. Es geht also gar nicht um Drogen, sondern um Liebe. Die Jagd nach den Hanffeldern: Dessen ungeachtet stürzten sich nach der deutschen Wiedervereinigung diverse Medien auf den Ort inmitten landwirtschaftlicher Flächen. „Das Fernsehen wollte unsere Hanffelder filmen“, erinnert sich Carmen Meister. Seit 20 Jahren lebt die amtierende Ortsteilbürgermeisterin jetzt in Drogen. Mindestens ebenso oft ist eines der drei Ortsschilder abhandengekommen. „In der Übergangszeit bis zum neuen Schild hießen wir dann 50“, meint sie und spielt auf das notwendige Verkehrsschild zur Geschwindigkeitsbegrenzung innerhalb der Ortschaft an. Seit Drogen zur Stadt Schmölln gehört, haben die Ortsschilder für Sammler ihren Wert glücklicherweise verloren. „Zu DDR-Zeiten hat sich niemand um den Namen gekümmert. Das kam erst nach der Wende.“ Dorfzentrum Kulturhaus: Herzstück des Dorfes ist das Kulturhaus am Ortseingang. Hier findet (fast) alles Soziale statt: vom traditionellen Maibaumsetzen über Kinderfeste bis zu den Rentner-Weihnachtsfeiern. Seit zehn Jahren stehen hinter der Belebung des Kulturhauses vor allem die Ehrenamtler des Drogener Freizeittreffs. Die umgebaute Feldscheune Baujahr 1969 liegt ihnen besonders am Herzen. Doch das Gebäude ist stark sanierungsbedürftig. Ein Kraftakt, den Drogen allein nicht stemmen kann. Hilfe erhofft sich Carmen Meister von der Stadt Schmölln. „Unser Kulturhaus wollen wir uns unbedingt erhalten für die Lebensqualität. Und ich hoffe so sehr, dass wir im Mai wieder ohne Mundschutz miteinander feiern können. Da gebe ich dann den Kuchen auch frei raus. Das soziale Miteinander fehlt bei uns ganz sehr.“ „Uns haben sie die Schilder trotzdem geklaut!“: Der alteingesessene Drogener Jörg Misselwitz hat zum außergewöhnlichen Ortsnamen ein eher pragmatisches Verhältnis. „Es lebt sich hier genauso wie in jedem anderen Dorf. Wir sind deswegen nicht reicher.“ Dennoch musste sich der Bauunternehmer in seiner Zeit als stellvertretender Bürgermeister auch mit dem ewigen Thema Schilderdiebstahl herumschlagen. „Wir hatten doppelte Säulen und zusätzliche Schrauben und uns haben sie die Schilder trotzdem geklaut!“ Drogener wollen in Schmölln mitreden: Was den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft betrifft, passiere nicht mehr viel im Ort. „Das ist schade. Wenn das Kulturhaus wieder in Ordnung käme, dann wär auch mal ein bisschen mehr los.“ Seit 2019 sitzt Jörg Misselwitz im Schmöllner Stadtrat für die „Wählervereinigung für das neue Schmölln“. „Ein klein bisschen mitreden wollen wir Drogener auch noch“, meint der 53-Jährige. Und wie lebt es sich mit den Windrädern in Dorfnähe? „Es ist nicht so, dass man nicht mehr schlafen kann.“ Von Dana Weber