Greifenfleisch-Chef denkt ans Aufhören

Mindestens drei Liter warmes Wasser am Tag sind das Rezept seiner Gesundheit. „Der Körper kann Warmes besser umsetzen“, erklärt Walter Kienast eine alte chinesische Weisheit, die er vor Jahren für sich entdeckt hat. „Flüssigkeit ist das Motoröl für Hirn und Herz“, fügt Kienast hinzu, der in der kommenden Woche seinen 64. Geburtstag feiert. Sein Lebenselixier wirkt. Denn obwohl der Ruhestand bald an die Tür klopft, ist Kienast ein Energiebündel. „Ich habe immer Vollgas gegeben. Langsam fahren kann ich gar nicht.“ Der Geschäftsführer des Greifswalder Traditionsunternehmens Greifenfleisch steht jeden Morgen um 5 Uhr auf, startet mit einem Glas Buttermilch und der Lektüre der OSTSEE-ZEITUNG in den Tag. Um 6 Uhr fährt er auf den Hof des Betriebes, der seit 125 Jahren seinen Sitz in der Wolgaster Straße hat. „Zwischen 6 und 6.45 Uhr ist meine produktivste Zeit“, sagt Kienast. Schlag auf Schlag geht es weiter. Kienasts Kalender ist prall gefüllt. Trotzdem bleibt er die Ruhe selbst, hat stets ein Lächeln auf den Lippen. Beim Gang durch die Produktionsräume hebt er ein Papier auf, das einem Kollegen zuvor beim Abtrocknen der Hände runtergefallen sein mag, prüft die Temperatur einer Räuchermaschine, hat ein „Hallo“ für jeden Mitarbeiter übrig. Greifenfleisch ist sein Leben, jeder Kollege wie ein Familienmitglied. Kienasts Engagement ist es zu verdanken, dass die Firma heute ist, was sie ist. 1988 wurde er Direktor der VEB Fleischwirtschaft Greifswald, einem Betrieb in volkseigener Hand. Der Kombinatsidee, in der das Unternehmen auch nach der Wende weitergeführt werden sollte, konnte Kienast nicht viel abgewinnen. Längst hatten seine Frau und er geplant, zurück nach Rostock zu gehen. Doch aus der damals 500-köpfigen Belegschaft kam immer wieder der Wunsch, er solle weiter Leiter bleiben. Auch seine Frau habe ihn gefragt, ob er die Menschen wirklich im Stich lassen wolle und wie er sich in ein paar Jahren fühle, wenn alles den Bach runter ginge. Also entschloss Kienast sich, zu bleiben, die Firma fit für die Marktwirtschaft zu machen. Er reiste durch den Westen, von einer Wurstproduktionsfirma zur nächsten, und stellte schnell fest, dass er die Schlachtung schließen müsse, um konkurrenzfähig zu werden. „Das war eine Voraussetzung dafür, dass wir überlebt haben“, blickt Kienast zurück. Die Zeit nach der Wende sei besonders schwer gewesen. „Die Leute haben erst mal die ganze Wurst mit den bunten Verpackungen gekauft. Das sah schick aus, war sehr verführerisch“, erinnert er sich. Gegenüber der Treuhand kämpfte Kienast weiter für die Privatisierung des Betriebes, doch lange kam er für die Köpfe ganz oben nicht als Investor in Frage. Drei ehemalige Studenten aus Hamburg wollten Greifenfleisch kaufen. „Der Sommer 1992 wird mir in ewiger Erinnerung bleiben“, sagt Kienast. Es war wohl die schwerste Zeit seines Lebens, die Nerven lagen blank. Doch dann hatte er die Treuhänder überzeugt, konnte die Firma kaufen. Viel zu teuer allerdings, wie er Jahre später feststellte. „Wir hatten damals keine Ahnung, was ein angemessener Marktpreis gewesen wäre“, blickt Kienast zurück. 2,5 Millionen Mark plus eine Million Mark Altschulden habe er für die Firma bezahlt, viele Jahre danach noch an den hohen Kreditkosten zu knabbern gehabt. Immer wieder kämpfte er, schaffte eine Neufinanzierung, mehrere Umstrukturierungen. Zum Beispiel privatisierte er ab 2003 die 15 Greifenfleisch-Läden, in denen bis dahin die Produkte verkauft wurden. Er schaffte den Fuhrpark und das Ladenfleisch-Programm ab. „Was können wir am besten“, hat sich Kienast immer wieder gefragt und die Firma zunehmend auf die Wurstherstellung spezialisiert. Nach 2005 war endlich Geld frei, um neue Maschinen zu kaufen, den enorm hohen Investitionsstau abzubauen. „Ich bin richtig stolz, dass ich jetzt einen hoch modernen Betrieb mit vielen technischen Erweiterungen übergebe“, sagt Kienast. Denn obwohl man gar nicht glauben mag, dass Kienast seine „Puppenstube“, wie er den Betrieb liebevoll nennt, tatsächlich abgeben will, ist er längst dabei, seinen Nachfolger einzuarbeiten. Bernd Dittmann soll die Geschäfte im Juli 2015 übernehmen. „Man sollte seiner eigenen Entwicklung nicht im Wege stehen“, sagt Kienast, der nach eigener Einschätzung erst noch lernen muss, einen Gang runterzuschalten. Obwohl Stress — den sieht man dem Vater einer Tochter und Opa eines Enkels (5) nicht an. Vielleicht, weil er dagegen ein gutes Rezept hat. „Wenn ich mich ärgere, über Dinge, die ich nicht ändern kann, marschiere ich durch die Produktionsstätte. Nach 20 bis 30 Minuten geht es mir wieder gut“, erklärt Kienast. Jubiläum 125Jahre alt wurde Greifenfleisch in diesem Jahr. Die Firma ging am 1. Januar 1889 an den Start. Bis 1972 war sie ein städtischer Schlachthof, wurde dann Volkseigentum und hieß bis 1990 VEB Fleischwirtschaft Greifswald. Seit dem 1. Juli 1990 trägt Greifenfleisch seinen heutigen Namen und ist eine GmbH. 78 Mitarbeiter hat Greifenfleisch heute. Vor der Wende arbeiteten 500 Frauen und Männer im Betrieb. Die Leute haben erst einmal die ganze Wurst mit den bunten Verpackungen gekauft. Das sah schick aus und war sehr verführerisch.“Walter Kienast über die Wendezeit Wenn ich mich über etwas geärgert habe, marschiere ich durch die Produktionsstätte. Nach 20 bis 30 Minuten geht es mir wieder gut.“Stressbewältigung à la Kienast Katharina Degrassi

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