Greifswald: OB Stefan Fassbinder über das Jahr 2020

Über die besonderen Herausforderungen im Corona-Jahr, über mögliche finanzielle Auswirkungen für die Stadt und die zahlreichen Bauprojekte sprach Oberbürgermeister Stefan Fassbinder (Grüne) im Interview mit der OSTSEE-ZEITUNG. Feiern Sie Weihnachten in diesem Jahr anders als sonst? Wir haben Weihnachten schon immer in der Kernfamilie gefeiert, in sehr kleinem Kreis mit unseren vier Kindern. Wir stecken mitten im zweiten Corona-Lockdown des Jahres. Viele Menschen haben verzichtet, auf Besuche bei geliebten Menschen, Feiern, Reisen. Was war Ihr größter Verzicht? So, wie viele andere Menschen auch, habe ich den Wegfall vieler kultureller und sportlicher Angebote als großen Verlust erlebt. Ich habe Konzerte, Veranstaltungen, Theater, das Fischerfest, den MV-Tag oder das Drachenfest vermisst. Auch die fehlende Planbarkeit ist eine große Belastung. Vieles im kommenden Jahr ist unsicher – egal, ob es um die Arbeit, den Urlaub oder um die Ausbildung der Kinder geht. Was war die größte Herausforderung beim Regieren im Lockdown? Am schwierigsten war es, die Balance zu wahren bei der Abwägung, wie ich die Arbeitsfähigkeit der Stadtverwaltung mit ihren kommunalen Dienstleistungen sicherstelle und dabei einen möglichst guten Infektionsschutz für Mitarbeitende und Publikum gewährleiste. Beim ersten Lockdown im März waren wir als Kommune noch ziemlich auf uns alleine gestellt. In Greifswald haben wir uns sehr frühzeitig dafür entschlossen, zum Beispiel die Sporthallen zu schließen. Ich denke, das war richtig. Aber das war keineswegs eine leichte Entscheidung. Mittlerweile hat sich das alles eingepegelt. Es gibt immer detailliertere Verordnungen. Und trotzdem bleibt die Balance die größte Herausforderung. Es gibt auch keine Bürgersprechstunden mehr. Der Kontakt zu den Greifswaldern ist zu einem großen Teil weggebrochen. Inwiefern hat das Ihre Arbeit verändert? Das ist auf jeden Fall ein Defizit, weil ich den direkten Kontakt sehr schätze, auch bei Veranstaltungen und Firmenbesuchen. Das eine oder andere lässt sich über Facebook, Instagram und Telefonate fortsetzen. Manchmal ist es dadurch schwieriger einzuschätzen, was die drängendsten Probleme für die Bürgerinnen und Bürger sind. Sie waren im Oktober zwei Tage in Quarantäne. Normalerweise dauert die Quarantäne zwei Wochen. Gelten für Sie als OB andere Regeln? Nein, ich war nur in freiwilliger Quarantäne. Meine Corona-Warn-App hat rot angezeigt. Im ersten Schritt hatte ich deswegen beschlossen, nicht zur Arbeit zu geben. Es war relativ schnell klar, dass der Anklamer Bürgermeister mein Kontakt war. Wir hatten gemeinsam an einer Veranstaltung teilgenommen. Ich habe dann meinen Hausarzt angerufen und mich testen lassen. Das Ergebnis war negativ. Das Gesundheitsamt hat schließlich entschieden, dass keine Quarantäne nötig ist. Es wurde abgefragt, wie lange und unter welchen Umständen wir uns gesehen haben. Es gab zu Beginn und Mitte des Jahres in Greifswald mehrere rassistisch motivierte Übergriffe und Hetze gegen Flüchtlinge in den sozialen Netzwerken. Haben wir ein Rassismusproblem in der Stadt? Es gibt auf der ganzen Welt Rassismus in den verschiedensten Ausprägungen und unterschiedlicher Intensität. Davor ist auch Greifswald nicht gefeit. Wir sind zum größten Teil eine weltoffene und tolerante Stadt. Es gibt aber einzelne Vorfälle, die rassistisch motiviert sind. Wichtig ist, dass man nicht versucht, das zu vertuschen, sondern jeden einzelnen Fall ernst nimmt, versucht, dagegen vorzugehen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Der Ton in den sozialen Netzwerken ist mitunter recht rau. Es gibt nicht nur zum Thema Rassismus Hetze in verschiedenen Foren. Woran liegt das? Ich habe das Gefühl, dass früher an den Stammtischen genauso gepöbelt und unqualifiziert geredet wurde. Das haben dann aber nur die zehn Leute gehört, die am Stammtisch saßen. Jetzt können das sehr viele Menschen lesen und sich beteiligen. Ich finde sehr unschön, was da passiert. Es gibt praktisch kein Interesse an einem echten sachlichen Austausch. Ich beteilige mich an solchen Debatten schon lange nicht mehr aktiv. Es bringt ganz selten etwas. Das ist schade, denn eigentlich böten die Sozialen Medien Chancen für eine breite Debatte. Lesen Sie auch „Wir sind schockiert“: Großes Entsetzen nach Schweinekopf-Fund vor Greifswalder Moschee Greifswald: Neue Schule wird frühestens 2024 fertig Greifswald: Interview mit FDP-Politiker David Wulff zur Finanzlage Greifswalder Theater soll saniert werden: Frage nach Geldern unklar Auch zwischen den Bürgerschaftsmitgliedern ist der Ton recht aggressiv geworden. Ich habe nichts gegen eine lebhafte Debatte. Jede sachliche Auseinandersetzung um den richtigen Weg ist ein Gewinn. Die Diskussionen werden nur leider nicht immer gewinnbringend geführt. Es gibt pauschale Zuweisungen, Unterstellungen und persönliche Angriffe. Ich vermisse manchmal, dass die Fraktionen erklären, warum sie für oder gegen etwas stimmen. Ein reines Dagegensein ist unbefriedigend. Die CDU beklagt, dass es keine sachorientierte Arbeit mehr in der Bürgerschaft gibt. Sehen Sie das auch so? Aus meiner Sicht werden die Argumente aller Seiten angehört. Ich weiß, dass es Versuche der Fraktionen gab, auf die CDU zuzugehen und gemeinsame Beschlussvorlagen einzubringen. Solche Angebote wurden aber selten aufgegriffen. Als ich selbst noch in der Bürgerschaft saß und die Grünen eine sehr kleine Fraktion waren, wurden unsere Beschlussvorlagen grundsätzlich abgelehnt. Zu der Zeit hatte die CDU eine derart große Mehrheit, dass sie es nicht nötig hatte, überhaupt eine Diskussion zu führen. Es gab damals kaum eine wirkliche Debatte. Das ist jetzt zum Glück anders. In der Steinbecker Vorstadt protestieren Anwohner gegen Wohnhauspläne, obwohl wir Wohnungsnot in Greifswald haben. Wie passt das zusammen? Ich verstehe, dass die Anwohner protestieren. Sie wohnen in dem Quartier und haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie sich ihr Stadtteil entwickeln soll. Es gibt auch Konflikte mit dem von der Bürgerschaft beschlossenen Masterplan. Als am Ostrand von Eldena ein neues Wohngebiet entstanden ist, gab es auch Proteste. Manche, die vorher auf den Elisenhain geschaut haben, hatten auf einmal Häuser vor ihren Fenstern. So etwas ruft natürlich keine Freude hervor. Sie befürworten also die Baupläne? Ich befürworte ausdrücklich, dass dort Wohnraum entsteht. Wir unterstützen zur Verkehrsvermeidung den Ausbau innenstadtnahen Wohnens. Wir haben auch einen großen Bedarf in allen Preissegmenten. Es ist in diesem konkreten Fall nicht entscheidend, ob ich persönlich ein Geschoss weniger besser fände und mir vielleicht eine andere Gestaltung des Gebäudes wünschte. Die Stadt muss sich an das Baurecht halten. Die Stadt hat etliche Großbauprojekte vor der Brust. Die Sanierung des Hanserings und des Theaters, den Bau des Plasmatechnikums und der neuen Schule. Wird Ihnen manchmal bange angesichts der horrenden Summen? Wir haben uns insgesamt viel vorgenommen und das mit einem finanziellen Umfang, an den wir vor zehn Jahren noch nicht zu denken gewagt hätten. Ich bin sehr optimistisch, dass wir das gewuppt bekommen. Wir haben insgesamt betrachtet eine sehr positive Wirtschaftsentwicklung und das trotz Corona. Wie haben in Greifswald die höchsten Gewerbesteuereinnahmen, die wir je hatten, und die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wende. Die jetzt gezahlten Gewerbesteuern basieren auf den Wirtschaftsergebnissen von vor zwei Jahren. Das ist richtig. Ich bin mit vielen Betrieben im Gespräch. Ich sehe keine Anzeichen, dass sich das im kommenden Jahr erheblich ändern wird. Es gibt natürlich Betriebe in der Veranstaltungsbranche, im Einzelhandel oder in der Gastronomie, die von den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie stark betroffen sind. Hier gibt es zum Glück staatliche Hilfen. Diese gleichen nicht alles aus, sind aber eine große Hilfe. Der Branchenmix, der in Greifswald sehr technologie-, forschungs- und entwicklungsorientiert ist und eine bedeutende Säule in der Gesundheitswirtschaft hat, ist glücklicherweise nicht so stark von Corona betroffen. Der Vorsitzende des Finanzausschusses, David Wulff (FDP), sieht das nicht ganz so positiv wie Sie, sondern eher mit großer Sorge. Können wir uns das wirklich alles leisten? Wenn wir uns das aus heutiger Perspektive nicht leisten könnten, schlügen wir das als Verwaltung nicht vor, zumal zum Beispiel das neue Schulzentrum, das Zentrum für Life Science und Plasmatechnologie und auch das Theater für die Entwicklung der Stadt sehr wichtig sind. Mit der Unterstützung der Bürgerschaft werden wir das auch schaffen. Ich setze auch darauf, dass die Bürgerschaft die eine oder andere Gebührenanpassung mittragen wird. Manche Gebühren sind seit vielen Jahren nicht angepasst worden, was angesichts der Inflation einer tatsächlichen Verringerung entspricht. Die SPD wirft der Verwaltung vor, nicht alles getan zu haben, damit der geplante Schulneubau in der Stadtrandsiedlung bis 2023 fertig wird, also dann, wenn die Schülerzahlen explodieren. Es ist bedauerlich, wie lange es dauert, um ein solches Projekt umzusetzen. Das ist aber kein greifswaldspezifisches Problem, sondern liegt an den bundesweit geltenden Regularien. Da vergehen von der ersten Idee bis zum Bau zu viele Jahre. Das ist unbefriedigend. Wir haben mehrere Versuche unternommen, die Prozesse abzukürzen. Beispielsweise wollten wir den Bau um ein Jahr beschleunigen, indem wir den gesamten Auftrag an eine Firma vergeben. Das wurde vom Fördermittelgeber abgelehnt. Vieles liegt leider nicht in unserer Macht als Stadtverwaltung. Von Katharina Degrassi