OZ-Weihnachtsaktion in Greifswald: Spenden für Tagesstätte

In diesem Jahr haben wir uns für die Weihnachtsaktion „Helfen bringt Freude“ eine Institution ausgesucht, die vielen Greifswaldern bislang eher unbekannt ist. In der Tagesstelle des Kreisdiakonischen Werks in der Lomonossowallee 50 finden all die Menschen Hilfe, die durch das gesellschaftliche Netz gefallen sind und sich in Notsituationen befinden. Das Team rund um Tagesstellenleiter Thomas Göttsche bekommt es täglich mit dramatischen Schicksalen und Geschichten zu tun. Oft handeln sie von Arbeitsplatzverlust, persönliche Tragödien und Wohnungslosigkeit. Wir haben mit Anja K. und ihrem Betreuer Ingo Stehr gesprochen. Sie erzählen über den schweren, aber wundervollen Weg der Anja K. zurück ins Leben. Über Knochenbrüche und Eskapaden im Vollrausch: Blicken Ingo Stehr und Anja K. auf die vergangenen Jahre zurück, müssen sie über manche Situation mittlerweile Schmunzeln. Über die Knochenbrüche, Anjas Eskapaden im Vollrausch und die vielen kräftezehrenden Auseinandersetzungen. Doch bei allem Humor wissen beide: Es war ein Ritt auf der Rasierklinge, der auch hätte schiefgehen können. Ingo Stehr ist seit vielen Jahren Sozialarbeiter bei der Tages- und Beratungsstätte des Kreisdiakonischen Werks und Anjas Betreuer. Anja K. hingegen hat in den vergangenen zehn Jahren alles an Alkoholexzessen und Kleinkriminalität mitgenommen, was man sich vorstellen kann. Erst ein anderthalbjähriger Gefängnisaufenthalt und die unendliche Geduld des Tagesstättenteams brachten für sie die Wendung. „Es geht mir gut“, sagt die 37-Jährige und schaut auf. „Ich trinke keinen Alkohol mehr.“ Ihr Blick ist kristallklar, kein Zaudern und Zögern. Sie meint es ernst. Bei der Tagesstelle des Kleindiakonischen Werks in der Lomonossowallee 50 finden Menschen in Notsituationen Hilfe, beispielsweise bei Wohnungslosigkeit, Verschuldung oder Arbeitslosigkeit. Täglich können die Menschen hier einen geregelten Alltag erleben und bekommen Unterstützung bei den Aufgaben des täglichen Lebens. Wir sammeln Spenden für einen neuen Kleinbus, der für Ausflüge und Umzüge genutzt werden kann. Bitte helfen Sie mit, jede noch so kleine Summe zählt. Empfänger: Kreisdiakonisches Werk Greifswald-Ostvorpommern e.V. Verwendungszweck: Spende: OZ-WEIHNACHTSAKTION IBAN: DE28 1505 0500 0112 2487 48 BIC: NOLADE21GRW Mit der Angabe Ihres Namens auf dem Überweisungsträger willigen Sie ein, dass Ihr Vor- und Nachname sowie Ihre Spendensumme in der Zeitung veröffentlicht werden. Oft reicht ein Schicksalsschlag: Ihr Schicksal ist nicht so selten, wie man denkt. „Es fängt an mit einer traumatischen Lebenserfahrung, einer falschen Entwicklung, oftmals kommen später Suchtprobleme dazu. Dann beginnt sich eine Spirale in Gang zu setzen, welche die Betroffenen bis nach ganz unten führen kann“, erklärt Ingo Stehr. „Diese Menschen finden bei uns Hilfe.“ So auch Anja. Zuerst verliert sie ihren Arbeitsplatz als Köchin, den Frust ertränkt sie in Alkohol, die Beziehung ging in die Brüche, schließlich ist auch die Wohnsituation in Gefahr, Post und Rechnungen bleiben ungeöffnet. „Aus den letzten Wohnungen bin ich einfach abgehauen, die Miete habe ich eh nicht mehr gezahlt“, sagt sie. „Mir war alles egal. Alkohol verändert die Wahrnehmung total. Und ich habe sehr viel getrunken, bis zu zwei Flaschen Wodka am Tag.“ Doch auch in dunkelsten Zeiten: Der Kontakt zum Kreisdiakonischen Werk riss nie ab – eine Art Bindfaden, der Anja mit der realen Welt verband. Glaube an das Energiebündel riss nie ab: An diese Zeit vor dem Gefängnis erinnert sich Ingo Stehr mit Schrecken. Anja hatte die Kontrolle verloren, lebte irgendwo zwischen Randale und Rausch, Briefe blieben liegen, dafür vergaß sie den Wasserhahn zuzudrehen oder beschallte den ganzen Block mit lauter Musik. „Und ich musste dann nachts hin und die Nachbarn beruhigen“, erinnert sich Stehr. Alle Jahre wieder: In der Adventszeit unterstützt die OSTSEE-ZEITUNG gemeinsam mit ihren Lesern Menschen in der Nachbarschaft. In der Aktion „Helfen bringt Freude“ sammeln die zehn Lokalredaktionen für verschiedene Projekte in der Region. Einen Überblick gibt es hier. „Auch die Auseinandersetzungen mit ihr hatten es in sich. Meine Kollegin Petra und ich haben damals bereits zu zweit gearbeitet, weil einer alleine mit Anja nicht mehr fertig wurde“, beschreibt Ingo Stehr. „Manchmal dachten wir wirklich, wir können nicht mehr.“ Was in der Zeit aber nie verloren gegangen sei, war der Glaube an das Energiebündel Anja. Stehr macht eine Pause. „Was uns am meisten verletzt hat, war die Unehrlichkeit“, sagt Stehr heute. „Sie konnte kaum aufrecht stehen, hat aber behauptet, nüchtern zu sein.“ Anja nickt, man ahnt, wie sehr auch sie unter der Situation litt. „Ich habe mich so unendlich geschämt“, sagt sie. „Ich wollte nicht, dass ihr das merkt.“ Auch anderen Leuten versuchte sie eine Illusion zu vermitteln, immer gut gelaunt und korrekt angezogen, versuchte sie, das Bild so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Lesen Sie auch: Greifswalder in Not leiden doppelt unter Corona-Krise Greifswalder Sterbebegleitung in Corona-Zeiten: „Es bleibt ein unzufriedenes Gefühl“ Greifswald: Hier erhalten Täter und Opfer von häuslicher Gewalt Hilfe Justizvollzugsanstalt: Traurig, aber auch eine Rettung: Irgendwann summierten sich die Anzeigen, Ausfälle und unbezahlten Rechnungen so sehr, dass es nicht mehr bei einer Bewährungsstrafe blieb. Eineinhalb Jahre in der Justizvollzugsanstalt Bützow bekam Anja aufgebrummt. „Ich wusste irgendwie, dass das kommt“, sagt sie heute. „Vielleicht habe ich auch unbewusst daraufhin gelebt, ich wusste, dass ich sonst nicht mehr lange überlebt hätte.“ So hart auch der Entzug und der Alltag in der Justizvollzugsanstalt, das Leben ohne Alkohol hat ihr gut getan. „Tausendmal besser. Man bekommt viel mehr mit und muss nicht ständig Angst haben“, sagt sie. „Ich konnte wieder aktiv werden. Wegen meines Schuldenberges habe ich Insolvenz beantragt.“ In der Zeit riss der Kontakt zur Tagesstelle nicht ab, gemeinsam entwickelten sie Ideen und Pläne für ein neues Leben. Kontakt zu anderen Häftlingen habe sie in der JVA nicht gesucht. „Alleine ist man besser dran“, sagt sie. „Außerdem bekommt man in der JVA alles an Drogen. Medikamente noch dazu. Ich wollte das nicht mehr, dann muss man Abstand halten.“ Zögerliche erste Schritte zurück ins Leben: Aus dem Keller von Anja förderte Ingo Stehr in dieser Zeit unterdessen Mengen unbezahlter Rechnungen zutage. „Ich hatte ja die Vollmacht von Anja, ich musste mich drum kümmern. Bis dahin wusste ich nicht, wie viele unterschiedliche Inkassounternehmen es gibt“, scherzt er. „Heute kann ich darüber lachen, aber damals war das schon hart. Man muss ja mit allen Gläubigern in Kontakt treten und Vereinbarungen treffen.“ Als Anja schließlich aus der Justizvollzugsanstalt kam, war vieles bereits vom Kreisdiakonischen Werk in die Wege geleitet: die Wohnungssuche lief, Sozialleistungen waren beantragt. Die ersten Schritte draußen waren zögerlich. „Ich hatte Angst“, beschreibt sie. „Zuerst habe ich bei meiner Freundin gewohnt und habe mich im Schlafzimmer eingesperrt. Der Geräuschpegel, die vielen Menschen draußen – das kennt man ja nicht mehr.“ Neue Arbeitsstelle für Anja: Heute gehe es ihr gut, sagt die 37-Jährige. Ihre Körpersprache bestätigt das. Wenn sie lacht, blitzen ihre Augen voller Lebenslust, trotzdem wirkt sie besonnen und reflektiert. Früher habe sie auch mal als DJane Musik aufgelegt, erzählt sie. „Lieber nicht mehr“, befindet sie. „ Zu viel Verknüpfungspunkte mit der Vergangenheit.“ Auch ihr gelernter Beruf als Köchin kommt für sie nicht mehr infrage. „Heute sind mir andere Dinge wichtig. Mein Leben steht jetzt an erster Stelle“, sagt sie. „Im Dezember beginne ich eine neue Arbeit. Ich arbeite dann in einer Einrichtung für Senioren, ich freue mich drauf.“ Das Beratungsangebot der Tagesstelle nutzt sie weiter, ihr Konto möchte sie weiterhin hier führen lassen. Anjas Sozialarbeiter Ingo Stehr atmet durch. Bei allem, was er an diesem Nachmittag sagt, umspielt ein Lächeln sein Gesicht. „Ohne etwas zu beschönigen, ich habe ein wirklich gutes Gefühl“, sagt er. „Ich glaube, Du schaffst das. Und das macht mich mächtig stolz.“ Der Name der mutigen Protagonistin, die so offen über ihr Schicksal sprach, ist der Redaktion bekannt. Er wurde für den Artikel auf ihren Wunsch in Anja geändert. Von Anne Ziebarth