Offene Kitas in MV: Greifswalder Erzieherin kritisiert zu wenig Schutz

Der Befürchtung vor einer möglichen Ansteckung mit dem Coronavirus begleitete Elisabeth Wernicke zu Beginn der Pandemie häufiger auf den Weg zur Arbeit. Heute sagt sie: „Wenn ich jeden Tag Angst hätte, mich anzustecken, würde es mich zermürben.“ Seit 2012 arbeitet die 32-Jährige als Erzieherin in der Greifswalder Kita „Arche Noah“. Die Politik appellierte an die Vernunft der Eltern, ihre Kinder nur dann in die Betreuung zu geben, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Eine Abfrage des Sozialministeriums bei allen Landkreisen und kreisfreien Städte (Rostock und Schwerin) ergab, dass rund 57 Prozent der etwa 114 000 Kinder in Mecklenburg-Vorpommern, die regulär in eine Kindertageseinrichtung (Krippe, Kindergarten, Hort, Kindertagespflege) gehen, aktuell zu Hause betreut werden. Anders sieht es hingegen in der Kita „Arche Noah“ aus. Am Dienstag wurden 75 der 98 Kinder in die Betreuung gegeben, sagt Leiterin Irene Assmann. Sie begründet die hohe Zahl auch damit, dass viele Eltern in der Klinik beschäftigt sind. Bedenken wurden von der Landespolitik nicht ernst genommen: Im Gespräch mit Elisabeth Wernicke wird schnell klar, in welchem Zwiespalt sich Erzieher derzeit befinden müssen, weil in Mecklenburg-Vorpommern alle Kitas geöffnet haben. Einerseits, sagt sie, habe sie Verständnis für Eltern, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Kinder betreuen zu lassen. „Ich weiß, dass es ohne jegliche Hilfe sehr belastend sein kann, gerade für Alleinerziehende. Eltern und Kinder im Homeoffice und Homeschooling haben meine vollste Anerkennung.“ Andererseits müsse die Lage ernst genommen, Erzieher sollten mehr geschützt werden, so Wernicke weiter: „Ich möchte nicht ausgenutzt werden. Ich möchte nicht, dass mit meiner Gesundheit gespielt wird.“ Weil es keine klaren Regelungen für die Betreuung gibt, gleicht der Weg zur Kita für viele Eltern einem Gang zur Anklagebank. Der Vorwurf der Erzieher: Es sei nicht richtig, dass Eltern allein entscheiden dürfen, ob sie ihre Kinder in die Kita bringen. Das führe automatisch dazu, dass mehr Kinder in den Einrichtungen sind, als wirklich notwendig wäre. Mehr lesen: Betreuung in Kitas: „Erzieherinnen fühlen sich nicht wertgeschätzt“ Aufstand von Erziehern in MV: „Schließen Sie die Kitas, Frau Schwesig!“ Kommentar: Die Forderung der Erzieher ist ein Schlag ins Gesicht Dass alle Eltern selbst entscheiden können, ob und wann ihr Kind zur Kita geht, sei nicht zu verantworten, wenn parallel das ganze Land in den Lockdown muss. Das teilten Elisabeth Wernicke und weitere Kollegen der Kreisdiakonischen Kita GmbH, zu der auch die Kita „Arche Noah“ gehört, Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) bereits mit. Doch mit der Begründung des Sozialministeriums, die Infektionszahlen in der Kinderbetreuung seien gering, wurden die Bedenken der Erzieher und Erzieherinnen weggewischt. Arbeitszeiten bei Erziehern sind gestiegen: Der Alltag in den Kitas habe sich in den vergangenen Monaten verändert. Zwar betreut Wernicke aktuell weniger Kinder (statt durchschnittlich 15 Kinder momentan 11). Durch die Gruppentrennung würden sich die Arbeitszeiten allerdings erhöhen: „Durch eventuelle Quarantänen fallen auch ab und an Erzieher aus. Dadurch wird es dann eng.“ Aufgaben zur Vor- und Nachbereitung nehme sie oft mit nach Hause. Auch für die Kinder habe sich der Kita-Aufenthalt verändert: Sie seien weniger frei, berichtet Wernicke. „Vorher konnten sie aussuchen, wann sie zum Essen gehen oder in welchem Raum sie spielen. Jeden Freitag konnten sich die Kinder entscheiden, ob sie mit einem Erzieher in die Werkstatt oder bei einem kreativen oder musikalischen Angebot mitmachen wollen. Jetzt muss alles von dem Gruppenerzieher abgedeckt werden.“ Bestehender Körperkontakt trotz erhöhtem Infektionsrisiko: Mittlerweile ist es zu einer enormen Gewissensfrage geworden, ob kränkelnde Kinder in die Kita gehören, die Eltern zusätzlich unter Druck setzt. Mit diesem Thema würden Eltern nun sensibler umgehen, weiß Wernicke zu berichten. „Bei einer Schnupfnase ist das kein Problem. Wenn Husten dazu kommt, wird man etwas hellhöriger. Aber das hatte ich noch nicht. Wenn sie sehr erkältet sind, lassen die Eltern ihre Kinder zu Hause.“ Auch interessant: Kitas in MV haben im Lockdown auf: Wie Eltern vor eine Gewissensfrage gestellt werden Mutter aus Landkreis Rostock unter Tränen: „Meine Tochter wurde aus der Kita geworfen“ Zwar weiß die Erzieherin, dass beim Körperkontakt mit den Kindern ein höheres Übertragungsrisiko besteht, „aber es ist nicht möglich und nicht menschlich, den Kindern das zu verwehren.“ Wernicke ist selbst Mutter von zwei Kindern und behält diese zu Hause. Seit Mitte Dezember betreut ihr Mann die beiden, vier und fünf Jahre alt, an drei Tagen. An zwei Tagen übernehmen ihre Eltern, „damit ich arbeiten gehen kann. Natürlich habe ich Sorgen, das Virus mit nach Hause zu nehmen. Mein Vater ist Risikopatient. Aber ich und viele andere sind da, weil wir unseren Beruf und unsere Berufung lieben.“ Die Politik, sagt Wernicke, möchte sowohl Eltern als auch Kindern gerecht werden: „Aber sind Kinder denn glücklich, wenn sie von 7 bis 17 Uhr in der Kita sind? Ich finde, viele Eltern werden mit dem Rundum-sorglos-Paket der Kitas und Ganztagsschulen aus der Pflicht genommen.“ Daher plädiert Wernicke für ein zeitliches Mittelmaß: „Ab 14 Uhr steigt die Nachfrage bei den Kindern, wann sie abgeholt werden, enorm. Sie brauchen soziale Kontakte, das stimmt. Aber eben nicht den ganzen Tag.“ Von Christin Lachmann