Pioniere im Reich des Lernens

Inklusion in der Schule, was war das nochmal? Ach ja: Kinder mit „besonderem Förderbedarf“ sollen in normalen Klassen lernen. „So wird Inklusion oft verstanden, aber darum geht es gar nicht“, sagt Lehrer Wolfram Otto von der Martinschule Greifswald, Mitglied der Schulleitung. Tatsächlich gehe es darum, die stigmatisierende, schmerzhafte Trennung zwischen „normal“ und „besonders“ endlich fallen zu lassen, Schule völlig neu zu denken. Er sieht begeistert aus, wenn er davon spricht. „Jedes Kind hat Förderbedarf, jedes Kind ist einzigartig“, sagt er. Eben das nehme die Martinschule zur Grundlage, um das Lehren und Lernen für jedes der 550 Schulkinder einzeln zu planen – für Hochbegabte wie für geistig Behinderte und alle irgendwo dazwischen. Bei der Robert Bosch Stiftung, die zusammen mit der Heidehof Stiftung seit 2006 innovative Lernkonzepte fördert, trifft dieser Ansatz auf Neugier – weil er Pionierarbeit auf dem Weg in Richtung Inklusion bedeutet: Unter 90 Schulen hat die Bosch-Stiftung die Martinschule nach schriftlicher Bewerbung in die Auswahl zum Deutschen Schulpreis nominiert, zusammen mit 19 anderen. Ende Februar wollen Bildungsexperten im Auftrag der Stiftung die Schule besuchen, ein ARD-Kamerateam soll den Alltag filmen, die Siegerschule bekommt 100 000 Euro. Otto findet: „Schon zu diesen 20 zu gehören, ist eine Auszeichnung.“ Anfangs wurden an der Evangelischen Martinschule Kinder mit geistiger Behinderung noch in Extra-Klassen unterrichtet, die möglichst oft mit den anderen zusammenkamen, nur körperlich Behinderte waren voll dabei. Inzwischen ist die Trennung bis Klasse 7 aufgehoben und die Schulleitung hat beschlossen, das inklusive Konzept bis in Stufe 8 weiter zu ziehen, langfristig vielleicht noch in die 9. „Das ist eine Riesenherausforderung, weil die Leistungsvoraussetzungen der Kinder immer unterschiedlicher werden“, sagt Otto. „Wie soll ich Unterricht machen, wenn der eine schon den Satz des Pythagoras kann, der andere noch nicht schriftlich multiplizieren?“ Selber Lernstoff zur selben Zeit für alle – damit geht es nicht. Und so beginnt ein typischer Morgen in der Martinschule so: In ihren „Stammgruppen“ versammeln sich bis zu zwölf Schüler einer Klassenstufe, um gemeinsam mit ihrer Lehrerin den Tag zu planen. In einem Raum im ersten Stock etwa hält Fünftklässlerin Stella eine Liste in der Hand, sieben weitere Schüler sitzen im Stuhlkreis. Stella, eine der Lernstarken, fragt jeden, was heute auf seinem Lernplan steht. „Fabeln“, sagt der eine, „Multiplikator-Check“, der andere. Die Antworten variieren, je nachdem, welche Ziele sich der Einzelne in Absprache mit Lehrern und Eltern gesteckt hat, wie weit er auf diesem Weg ist und was er als nächstes lernen will. „Weil wir sie einbeziehen, fühlen sich die Kinder selbst verantwortlich für ihre Lernfortschritt und können, im Rahmen des Lehrplans, nach ihren Interessen gehen“, sagt Otto. Statt ständigen Tests mit Noten gebe es zudem Selbst-Checks und Feedbackgespräche.„So hat das Kind ein eigenes Ziel und damit eine ganz andere Motivation zu lernen.“ Erst in der 9. Klasse werden doch noch Noten eingeführt – ein Zugeständnis an die nahenden Abschlüsse. Für den Alltag heißt der Ansatz: Jeder Lehrer muss Konzepte für das freie Arbeiten in Kleingruppen vorbereiten „und er muss seine Schüler gut kennen“. Nicht immer sei das leicht, sagt Otto. „Es bedeutet für viele ein Umdenken.“ Ein, zwei Stunden später, in Klasse 10H, dem Kurs, der auf das Abitur zugeht, lässt sich beobachten, wohin das im Idealfall führt: Deutschlehrerin Kornelia Tetzlaff hat sich in eine Ecke des Klassenzimmer zurückgezogen.Vorn am Lehrerpult sitzt Zehntklässlerin Lena – und schmeißt souverän den Unterricht. Mit klarer, fester Stimme hat sie gerade ein Buch über die Nazi-Entbindungslager „Lebensborn“ vorgestellt, jetzt diskutieren mehrere Schüler mit ihr: darüber, ob die Mütter damals Schuld auf sich luden, als sie ihre Kinder weggaben. Oder wieso die Lagerkinder nach Kriegsende angefeindet wurden. Am Ende geben sie Lena Feedback, loben ihre feste Stimme und die gut ausgewählten Zitate – man sieht: Das machen sie nicht zum ersten Mal. „Mich brauchen sie kaum, sie diskutieren wirklich miteinander“, sagt Kornelia Tetzlaff, während die Schüler sich nun in Stillarbeit versenken. Mittendrin sitzt Tamina Engel im Rollstuhl, ihren Vater hat sie als Integrationshelfer an der Seite (siehe unten). Dass sie dabei ist, findet hier keiner ungewöhnlich. Die 16-Jährige Svea antwortet auf die Frage, was das Besondere an der Martinschule sei, denn auch als erstes: „Dass wir so viel frei arbeiten.“ Meist gebe der Lehrer nur einleitende Erklärungen, „dann arbeiten wir selbständig weiter und helfen uns gegenseitig.“ Schüler mit geistiger Behinderung gehören zwar nicht zur 10H, weil keiner von ihnen auf das Abitur zugeht. „Aber früher waren wir in einer Klasse“, sagt Svea. „Ich finde das gut, denn ich sehe oft bei anderen Leuten, dass sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen, wenn sie mal jemanden mit einer Behinderung sehen.“ Probleme im Unterricht gibt’s natürlich auch manchmal, sagt Wolfram Otto. Mit Schülern, die laut sind, sich verweigern und andere damit stören. „Aber das gibt es an jeder Schule. Wir suchen dann individuelle Lösungen.“ Was sonst. Sybille Marx

Greifswald - Pioniere im Reich des Lernens