Vom Greifen zum Begreifen

Rot, gelb, blau. Nur diese drei Farbtöpfe stehen Emma zur Verfügung, um ein Bild aufs Papier zu zaubern. Und während sie malt, entfalten sich wunderschöne Nuancen: orange, violett und verschiedene Grüntöne. Farben, die sie später in Form von 63 Holztäfelchen in den Händen hält und sortiert – von hell nach dunkel. Neun Farbstrahlen. Für Emma ein Kinderspiel. „Materialien wie diese gehören bei uns zum Alltag“, sagt Beate Lange, Leiterin der Montessori- Kindertagesstätte Greifswald, die sich in Trägerschaft der Aktion Sonnenschein befindet und an zwei Standorten zu Hause ist: im Helsinkiring und in der Makarenkostraße. Offene Regale mit Sortierbrettern, Zylinderblöcken oder Perlenmaterial ... animieren die Knirpse in allen Räumen zur Beschäftigung. „Wobei für uns der innere Antrieb der Kinder wichtig ist: Sie können selbst entscheiden, was sie wo machen“, betont die 50-Jährige und fügt hinzu: „Wir Erzieher geben Anregungen, stellen ihnen dafür eine pädagogisch vorbereitete Umgebung zur Verfügung.“ Die Idee ist schon alt, aber noch immer erfolgreich: Das Haus arbeitet nach dem von der Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) geprägten Leitsatz: „Hilf mir, es selbst zu tun – und gib mir Zeit dafür“. „Es wird gebastelt, gemalt, gebaut, gesungen, gerechnet, geforscht – und das alles jahrgangs- und gruppenübergreifend“, sagt Beate Lange voller Begeisterung. Während andere Tagesstätten noch über Inklusion nachdenken, lebt das Montessori-Kinderhaus diesen Gedanken von Anfang an. „Vier von 15 Kindern in einer Gruppe, die von zwei Erziehern betreut werden, haben einen Förderbedarf“, verdeutlicht Beate Lange. Ganz selbstverständlich hopst ein Junge mit geistiger Beeinträchtigung deshalb gemeinsam mit anderen Schützlingen auf einem Trampolin. Nicht nur die Erzieher geben Acht, dass er sich nicht verletzt; auch die Kinder tun es. Hier wird niemand isoliert, lernt jeder vom anderen, hilft einer dem anderen. Und es gebe keine Tabus. „Bei uns lernen die Kinder, Kerzen anzuzünden, mit scharfen Messern Gemüse zu schneiden oder eine Porzellankanne zu tragen“, nennt Beate Lange Beispiele. Plastiktassen sucht man vergebens. Die Kinder trinken aus Gläsern, die sie selbst befüllen. Auch Eingießen will erlernt sein. „Als ich Wilhelm neulich abholte, hat er gerade Geschirr abgewaschen, danach abgetrocknet und weggeräumt“, erzählt Anne Zeisler, Elternratsvorsitzende im Helsinkiring. Ihren Fünfjährigen weiß sie in der Kita sehr gut aufgehoben, „weil das Konzept die Kinder zu großer Selbstständigkeit führt und auch noch ganz alltägliche Dinge gelehrt werden“, sagt die Mutter. Nicht nur Eltern geht es mit der Kita gut. Auch die Erzieher fühlen sich im Haus glücklich, versichert Manja Wendt und erklärt: „Die Montessoripädagogik lebt von der Anschaulichkeit. Verlässt ein Kind im Restaurant zum Beispiel den Frühstückstisch, übergibt es danach einem anderen Kind ein Kärtchen. Das weiß dann: Ein Platz ist frei, ich kann jetzt essen gehen“, erzählt die stellvertretende Leiterin in der Makarenkostraße. Früher wurde versucht, den Wechsel durch Zuruf zu vollziehen. Das habe nicht funktioniert. Manche Dinge sind eben dazu da, hinterfragt und über den Haufen geworfen zu werden. Kinderbetreuung sei nichts Statisches. Im Gegenteil. Deshalb werde auch großen Wert auf Fortbildung gelegt. „Fast alle haben bei uns das Montessori-Diplom, vier sind in Ausbildung und alle haben eine Zusatzqualifikation in Heilpädagogik“, sagt Beate Lange, die das Kinderhaus vor 25 Jahren mit anderen aufbaute und sich keine schönere Arbeit vorstellen kann. Deshalb ist sie als Dozentin auch bundesweit aktiv, um andere von der Pädagogik zu begeistern. Die Werbetrommel muss sie eigentlich gar nicht rühren: „Wir sind anerkannte Hospitationseinrichtung“, sagt sie. Praktikanten, Studenten, Erzieher ... sind regelmäßig im Haus und inhalieren damit praktisch ebenfalls den Grundsatz: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ 96 Kinder werden in der Makarenkostraße 8 betreut: 75 im Kindergarten (davon 20 Integrativkinder), 12 in der Krippe und 9 Diagnose-Förderkinder (1-7 Jahre). Im Helsinkiring 5 sind es 75 Kinder, davon 45 im Kindergarten (12 I-K), 30 in der Krippe. Die Aktion Sonnenschein ist Träger der Kita. In beiden Häusern arbeiten neben der Kita-Leiterin insgesamt 14 Erzieherinnen, zwei Erzieher, elf Heilpädagogen, vier Zusatzkräfte und eine FSJlerin. Geöffnet hat die Kita im Helsinkiring 6.30 bis 17.30 Uhr, in der Makarenkostraße 6 bis 17.30 Uhr. In der Makarenkostraße kostet ein Ganztagsplatz in der Krippe 306,45, im Kindergarten 154,52 Euro, im Hort 92,74 Euro; ein Teilzeitplatz in der Krippe 184,35, im Kindergarten 94,28, im Hort 60,96 Euro; ein Halbtagsplatz Krippe 125,06 und im Kindergarten 65,38 Euro. Im Helsinkiring kostet ein Ganztagsplatz Krippe 310,32 Euro, im Kindergarten 147,02 Euro, im Hort 92,74 Euro; ein Teilzeitplatz Krippe 189,25, im Kindergarten 92,35 und im Hort 60,96; ein Halbtagsplatz Krippe 130,47, im Kindergarten 66,23 Euro. Grundlage der Arbeit bildet die Montessori-Pädagogik. Deren Prinzipien sind Selbstständigkeit, Bewegung, Wiederholung, Isolierung einer Schwierigkeit und eigene Fehlerkontrolle. Im Mittelpunkt steht das Respektieren der Freiheit des Kindes und seiner Individualität, wobei sich alle an Regeln halten müssen. Es gibt feste Zeiten für Morgenkreise, Angebote, Essen und Mittagsruhe. Inklusion wird hier seit Jahren gelebt. Seit Januar ist die Makarenkostraße 8 außerdem Mehrgenerationenhaus – Senioren bereichern die Arbeit der Kita. Jedes Haus der Montessori-Kindertagesstätte hat einen Elternrat mit jeweils acht Eltern. Sie treffen sich offiziell alle zwei Monate, aber auch sporadisch zur Vorbereitung von Festen oder anderen Veranstaltungen. Es gibt z.B. auch Treffen für Eltern von Integrationskindern, einen jährlichen Arbeitseinsatz zur Verschönerung der Höfe sowie Montessorinachmittage, bei den Eltern Wissenswertes über die Pädagogik und Materialien erfahren können. Jederzeit haben Eltern die Möglichkeit, in den Gruppen zu hospitieren. Petra Hase

Greifswald - Vom Greifen zum Begreifen