Winter 1936 auf der Greifswalder Oie: Alle warteten auf „Postkorl“

Da kommt es! Weit draußen auf dem Wasser taucht das so sehnlichst erwartete Segelboot auf. Das Mädchen, das es entdeckt hat, läuft zu einer Glocke und läutet sie enthusiastisch. Jung und Alt strömen an diesem Februartag des Jahres 1936 zusammen auf ihrer beschaulichen Heimat-Insel, der Greifswalder Oie, und harren aus am Ufer. Denn der Mann dort auf dem Segelboot bringt ihnen das, worauf sie tagelang warten mussten. Frische Lebensmittel wie Brot, Fleisch, Eier und Butter hat Karl Knepel geladen. Und auch leckere Brötchen. Vor allem aber bringt Knepel, den sie alle „Postkorl“ nennen, Pakete und Briefe – auch die der Kinder, die auf dem Festland zur Schule gehen. Einmal in der Woche – stets sonnabends – fährt der Fischer im Herbst und Winter von Freest aus los zur Greifswalder Oie; bei schlechtem Wetter auch in noch größeren Abständen. Am Schiffsmast weht in jenem Winter die Reichspostflagge, wie aus alten Aufzeichnungen hervorgeht, die jenen Februartag 1936 beschreiben. Betagter Fischerkahn als Postfahrzeug: Sein Amt verrichtete „Postkorl“ von 1924 bis 1938 und damit bis zu seinem 71. Lebensjahr. Sein Postboot zur Oie war damals der einzige Postsegler Deutschlands – ein gewöhnlicher, recht betagter und offener Fischerkahn, der von dem ehemaligen Freester Fischer Karl Knepel, Jahrgang 1867, gesegelt wurde. „Kajüte und Motor musste man sich denken, und das Denken vergisst man sehr schnell, wenn einem erst auf der Fahrt zunächst zur Lotsenstation auf der Insel Ruden der eisige Ostwind in die klappernden Knochen pfeift“, heißt es im Bericht eines Zeitungsjournalisten, der damals die Oie besuchte, Knepel begleitete und seine Eindrücke niederschrieb. Und nicht immer hat Postkorl so erträgliches Wetter wie an jenem Tag. Stürme gab es und Flauten – und der Winter führte oft ein hartes Regime, sodass die Segeltörns von etwa zwei Stunden durchaus schon mal zur Tagestour werden konnten. Bisweilen war die Überfahrt von Freest zur Oie auch gar nicht möglich. Oft versperrten Eis, Sturm und Nebel dem segelnden Postboten den Weg zur Insel. Dann warteten die Menschen dort, die ein paar feste Fäden mit dem Festland gesponnen hatten, vergeblich auf einen Brief, verzehrten sich in Sorge, Liebe oder Ungeduld, hofften und bangten Tag für Tag. Karl Knepel wusste das – und versuchte alles. So machte sich „Postkorl“ beispielsweise im eisigen Winter 1928/29 mit Pferd und Schlitten auf den Weg über die vereiste See zur Oie. Als der Schornsteinfeger Sturm brachte: An bestimmten Tagen konnten die seinerzeit 18 Oie-Bewohner – darunter ein Kind – seine Ankunft kaum erwarten, brachte „Postkorl“ doch allmonatlich den Inselbewohnern auch ihr Gehalt. Viermal im Jahr begleitete den Freester Postsegler zudem der Schornsteinfeger. Brachte der denn Glück auf den Überfahrten? „Nee, grod denn gifft dat meist Regen oder Sturm“, berichtete Postkorl seinerzeit neugierigen Urlaubern im damals noch viel gesprochenem Plattdeutsch. Seiner Freundschaft mit dem „schwarzen Mann“ taten solche Sturmfahrten übrigens keinen Abbruch. Im Laufe seiner Dienstjahre hatte Karl Knepel auch kuriose Einsätze, half er einem Liebespärchen doch, das Festland zu erreichen und so manchem gekenterten Segler oder Fischer aus Seenot, wofür ihm damals eine Rettungsmedaille verliehen wurde. Auch ein paar Kästen Bier brachte der Postsegler häufig vom Festland mit. Und dann wurde gefeiert – im Seemannsheim, das wie das Domizil des Oie’schen Bauern und der „Inselhof“ an der Südspitze der Insel lag. Bordfest im Schein der Petroleumlampe: Das „Seemannsheim“ kannte seinerzeit jeder Fischer in pommerschen Gewässern. Hier herrschte oft Hochbetrieb. Ein Schifferklavier, eine Flöte und eine Mundharmonika: Dieses Trio genügte schon damals, um im Schein einer Petroleumlampe ein Bordfest aufzuziehen, das sich seinerzeit sogar auf der Hamburger Reeperbahn hätte sehen lassen können und das den Humor offenbarte, der den Rügenschen Fischern, die hier im Winter wochenlang vor der Oie Aalreusen stellten, ihre harte Arbeit zu ertragen half. Dazu wurde ein Skat „gekloppt“ mit Karten, die so abgegriffen waren, dass ein gewöhnlicher Mitteleuropäer beim besten Willen nicht wusste, ob er nun einen „Kreuz Jungen“ oder eine „Karo Sieben“ in der Hand hielt. Das störte aber niemanden, schließlich war gerade die Post gekommen! Und jeder, der nicht gerade Dienst auf dem Leuchtturm hatte, saß an diesem Tag fröhlich beisammen, wie in einer großen Familie. Lesen Sie auch Vorpommerns Robinson: Wie dieser Forscher auf der einsamen Insel Greifwalder Oie lebt Ruden und Greifswalder Oie: Eldorado in der Ostsee Im Sommer galt die Greifswalder Oie damals auf historischen Postkarten übrigens als das „Helgoland der Ostsee“ und wurde in den warmen Monaten vor allem von Malern, Schriftstellern und Künstlern zur Erholung, kurz als Sommerfrische bezeichnet, aufgesucht. Und diese kamen neben anderen Kurgästen mit Bäderdampfern und Seglern von Rügen oder Usedom, um manchmal nur für wenige Stunden dem arbeitsreichen Alltag zu entfliehen. Die Insel als Filmkulisse für Hans Albers: In jenen Wochen hatte der Oie`sche Bauer, der gleichzeitig auch Besitzer des „Inselhofes“ als einzigem Kurhaus vor Ort war, alle Hände voll zu tun. Denn dann überfluteten für kurze Zeit Hunderte von Menschen das etwa 1500 Meter lange und an einer Stelle gerade einmal 600 Meter breite Eiland. Und noch für etwas anderes war die Oie damals bekannt: 1932 drehte die UFA hier den Film „F.P. 1 antwortet nicht“ mit dem bekannten Schauspieler Hans Albers. So hatten Techniker und Leute vom Film einen Sommer lang die Nordspitze der Insel mit riesigen Kulissen versehen und eine monströse schwimmende Plattform als Flugplatz errichtet, der seinerzeit wohl nur mit heutigen Flugzeugträgern zu vergleichen ist. Einen Film über Postkorl gibt es indes nicht – bei den Einwohnern der Oie war er damals dennoch ein kleiner Star. Von Peter Machule