Die vergessenen Kinder des 20. Juli 1944

Seit sie denken kann, weiß sie um ihre Herkunft. Schon als Kind war ihr bewusst, die Enkeltochter von Oberstleutnant Cäsar von Hofacker zu sein. Das war einer jener Männer, die am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Adolf Hitler verübten, um das Deutsche Reich vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Für Valerie Riedesel Freifrau zu Eisenbach war dieser Teil ihres Stammbaums eine Selbstverständlichkeit, wie für andere Kinder der Umstand, dass ihre Großväter Lokführer, Steuerbeamte oder Reitlehrer gewesen sein mögen. „Mir war das immer präsent, es spielte bei uns zu Hause aber keine besondere Rolle“, sagt die 53-Jährige, die mit dem Buch „Geisterkinder“ zwar auch die Geschichte ihrer Familie aus der Versenkung holt, vor allem aber dem Thema 20. Juli 1944 ein völlig neues Kapitel hinzufügt. Was wurde aus den Familienangehörigen der so genannten Verschwörer, die im Rahmen des Unternehmens „Walküre“ versucht hatten, Deutschlands Diktator zu beseitigen? Publiziert wurde darüber manches. Valerie Riedesel konnte allerdings auf Tagebuchaufzeichnungen ihrer Mutter Anna-Luise und ihrer Tante Christa zurückgreifen. Die damals 14- und 12-jährigen Mädchen hatten akribisch alles notiert, was mit ihrer Familie nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler geschehen war: Es sind die Aufzeichnungen des Martyriums einer Sippenhaft unter den Nazis. Konzentrationslager Stutthof, SS-Strafgefangenenlager Matzkau, KZ Buchenwald, NS-Kinderheim Bad Sachsa ... „Das sind unglaublich bedeutende Dokumente einer Odyssee durch halb Europa“, sagt Valerie Riedesel, die erst vor drei Jahren, als sie die Tagebücher intensiv studierte, das ganze Ausmaß des erschütternden Schicksals ihrer Großmutter und deren fünf Kinder erkannte: täglich vom Tode bedroht, ständig in Angst um die Nächsten, auseinandergerissen ... Der Inhalt der Tagebücher ist aus heutiger Sicht von einer erstaunlichen Qualität. Nicht nur in der Sprache. „Es ist beeindruckend, wie toll das alles formuliert ist, wie gut diese jungen Mädchen ihren Gefühlen Ausdruck verleihen konnten“, sagt Valerie Riedesel, deren himmelblaue Augen unverhohlenen Stolz verraten. „Die Erlebnisse führten darüber hinaus zu Gedanken, die denen anderer Altersgenossen weit voraus waren.“ Das Eintauchen in die eigene Familiengeschichte förderte obendrein Korrespondenzen zwischen Cäsar von Hofacker und dessen Tochter Anna-Luise – ihrer Mutter – zutage, die bisher noch niemandem bekannt gewesen waren. Für die Autorin berührende, rührende Augenblicke. „Sie hat sich ihm geöffnet, er hat sehr einfühlsam reagiert“, beschreibt Riedesel Momente der Lektüre. „So zum Beispiel, als sie davon erzählte, wie sie ihre beste Freundin im Bombenkrieg verloren hatte.“ Sie habe völlig neue Züge an ihrem Großvater entdeckt, die ihr so bisher noch nie vermittelt worden waren. „Das hat ihn mir sehr nahe gebracht.“ Intensiv seien auch jene Stunden gewesen, als sie zu ihrer Mutter an den Tegernsee gereist war, um sich von ihr die in Sütterlin geschriebenen Teile der Tagebücher vorlesen zu lassen. „Dabei sind wir versunken in die damalige Zeit – sie hat mir viel erzählt. Das waren sehr emotionale Momente.“ Valerie Riedesel – sie studierte Geschichte in Straßburg und an der Sorbonne und absolvierte die Journalistenschule Axel Springer – hat mit „Geisterkinder“ Terrains betreten, die ihr zuvor unbekannt waren oder auch gar nicht so interessant erschienen. Dazu gehört das Militär. Detailliert schildert sie in ihrem Buch zum Beispiel, wie die Umsturzvorbereitungen in Paris vonstatten gingen, wo ihr Großvater als Offizier in der Militärverwaltung diente. Nein, eine Expertin auf dem Gebiet sei sie immer noch nicht. Allerdings habe sie erkannt, dass die Ereignisse um den 20. Juli 1944 einer ganz speziellen Würdigung bedürfen. „Historiker der Neuzeit zeigen, dass sie Schwierigkeiten mit dem militärischen Widerstand um Claus Schenk Graf von Stauffenberg haben, weil es sich dabei um Konservative handelte“, erklärt Riedesel. „Das ist eine ungerechte Sichtweise. Denn sie lässt unberücksichtigt, wie wahnsinnig schwer es gewesen ist, in einem Regime, das von Spitzeln durchsetzt war, einen derart gut organisierten Widerstand zu planen.“ Bewundernswert sei für sie auch die Entwicklung der am Putsch Beteiligten: „Das waren Männer, die das System anfangs mitgetragen haben, dann das Verbrecherische erkannten und sich schließlich entschieden, gegen den einst geleisteten Eid zu handeln.“ Diese Offiziere haben in ihren Augen Vorbildcharakter, sagt Valerie Riedesel mit Blick auf die Bundeswehr. „Solche Militärs sind als Wurzeln für eine Armee wichtig. Man muss genau hinschauen und darf die positiven Werte der Wehrmacht nicht übersehen, die für eine Armee sinnstiftend sein können.“ Es sei per se wichtig, dass die Deutschen über die Zeit des Nationalsozialismus’ Bescheid wüssten. „Die Jahre hatten solch immense Auswirkung auf unser Leben, dass wir dafür ein besonderes Bewusstsein entwickeln müssen, nicht Schuldbewusstsein – es geht um Kenntnis und Wissen.“ „Geisterkinder – Fünf Geschwister in Himmlers Sippenhaft“ kann helfen, Geschichte besser zu verstehen. Diesen Anspruch hat Valerie Riedesel, die davon überzeugt ist, dass historische Zusammenhänge selten über trockene Zahlen und die Aufzählung von Ereignissen vermittelt werden können. „Es sind die gelebten Schicksale, die ein Gefühl für die jeweilige Epoche erzeugen können“, sagt die Autorin. „Und was ist geeigneter, die damalige Zeit lebendig zu machen, als die Tagebuchaufzeichnungen von jungen Menschen.“ „Geisterkinder“ ist Valerie Riedesels erstes Buch. Sie versichert aber, dass es nicht ihr letztes sein wird. Auch das nächste wird in die deutsche Historie eindringen. Das Buch „Geisterkinder“ von Valerie Riedesel Freifrau zu Eichenbach erreichte in der vergangenen Woche auf der Spiegel-Sachbuchbestseller-Liste Platz 11 und rangierte gestern weiterhin unter den Top 20. Damit ist es derzeit das meistgekaufte Buch mit einem historischen Thema. Die nächste Lesung durch Valerie Riedesel auf der Insel Rügen findet Mittwoch, 11. Oktober, im Theater Putbus statt. Sie beginnt 19.30 Uhr. Das Buch „Geisterkinder – Fünf Geschwister in Himmlers Sippenhaft“ ist seit Ende Juli im Buchhandel und Online verfügbar. Es erschien im Verlag SCM Hänssler, ist gebunden und hat 372 Seiten (inklusive Verlagswerbung und der Seiten mit den 56 Abbildungen 416). Der Schutzumschlag hat einen erhabenen Titelschriftzug. ISBN 978-3-7751-5791-9, Preis: 18,95 Euro Jens-Uwe Berndt

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