Vorpommern-Rügens Landrat im Interview: Verlängerter Lockdown ist Drama

Landrat Stefan Kerth (SPD) sieht sich als Impulsgeber zwischen Ribnitz-Damgarten, Stralsund und der Insel Rügen. Seit mehr als zwei Jahren führt der 47-jährige Rechtswissenschaftler aus Barth nun die größte Behörde in Vorpommern-Rügen an. Ihm unterstellt sind fast insgesamt 1400 Mitarbeiter. 2020 wurde für Kerth der Kampf gegen das neuartige Coronavirus zum dominierenden Thema. Dennoch konnte er etliche Herzensprojekte voranbringen, andere musste er stoppen. Im Interview spricht er darüber, was er sich für 2021 vorgenommen hat und wie er über den Impfstart denkt und warum Normalität nicht mehr planbar ist. Wie sind Sie ins neue Jahr gekommen? Sehr ruhig. Ich habe im kleinen Kreis meiner Familie gefeiert. Auf unserem Grundstück in Barth habe ich mit meiner Frau und den Kindern ein Kleinfeuerwerk gezündet. Auf diese Tradition wollten wir nicht verzichten. Für mich als Landrat war die Situation über die Feiertage dennoch angespannt. Meine größte Sorge war, dass das Infektionsgeschehen im Kreis deutlich an Fahrt aufnimmt und ich zahlreiche Mitarbeiter reaktivieren muss. Zum Glück blieb der Anruf aus. Wie hat sich Ihre Arbeit durch die Pandemie verändert? Ich habe kaum Präsenztermine mehr. Diese Hatz von einem Ort zum anderen findet nicht mehr statt. Dafür sitzt man jetzt in vielen intensiven Abstimmungsrunden und Online-Konferenzen. Corona nimmt viel Arbeitszeit ein und auch etliches an Gehirnkapazität in Anspruch. Dennoch lasse ich mich von diesem Thema nicht dominieren, sondern lenke den Fokus immer wieder bewusst auf andere Themen im Kreis. Wenn es die Zeit erlaubt, hilft das Kite-Surfen, den Kopf einmal zu entlüften. Es ist mir wichtig, trotz Corona zu gestalten, statt nur zu verwalten und nicht nur bis zur nächsten Corona-Verordnung zu denken. Als Impulsgeber will ich die Entwicklung der Region voranbringen. Was lief aus Ihrer Sicht 2020 gut? Wir sind bei wichtigen Zukunftsthemen wie der Wasserstofftechnologie und 5G, also schnellem mobilen Internet, am Ball geblieben. So konnte unser Antrag beim Innovationswettbewerb ‚5x5G‘ des Bundes mit autonomer Schifffahrt und Hafenlogistik punkten. Alles für die Erprobung dieser Forschungsfelder haben wir vor der Haustür. Ob wir die letzte Hürde genommen haben und zur 5G-Modellregion werden, zeigt sich im Frühjahr. Für die maritime Wirtschaft war die elegante Rettung des Fährverkehrs zwischen Rügen und Schweden eine gute Sache. Für unseren Kreis ist diese Anbindung enorm wichtig. Die Schnellfähre bringt neue Qualität und Strahlkraft mit.Auf dem Festland haben wir einen großen Sprung beim Breitbandausbau gemacht. 90 Prozent des Trassenbaus sind bewältigt. Das Glasfasernetz bringt uns einen Vorteil gegenüber anderen Regionen. Schön war für mich das Wiederbeleben der Darßbahn. Hier zeigt sich, dass Politik auch zu mutigen Schritten bereit ist. Es wird eine neue Strecke gebaut, die auf der Schiene eine bessere Vernetzung mit anderen Regionen mit sich bringt und damit auch weniger Stau auf der Straße. Es gibt aber auch viele kleine Dinge, wie zum Beispiel das Schulessen am Gymnasium in Grimmen. Früher gab es dort nur ein Schülercafé, wir haben es zu einer Kantine umgebaut. Was war weniger gut? Unser Nahverkehrsplan wurde 2020 nicht fertig. Da hat uns Corona ausgebremst. Den Prozess werden wir 2021 abschließen. Damit verbunden sind viele kleine Veränderungen, die den ÖPNV kundenfreundlicher machen. Wie stark wir in der Praxis mit neuen Bedienformen wie einem Rufbus aufwarten können, so wie er gerade in Loitz (Vorpommern-Greifswald) erprobt wird, ist unklar. Durch Corona sind uns Fahrgasteinnahmen weggebrochen. Wir wissen erst nach der Krise, was wir mit dem Budget gestalten können. Im Frühjahr musste ich unsere Kampagne für die Anwerbung von Fachkräften aufhalten. Damit wollten wir Menschen für das Arbeiten im Ostseekreis begeistern. Doch keiner wusste, wie sich die Pandemie auswirkt. Für die Kampagne war es nicht der richtige Zeitpunkt. Bedauerlich ist auch, dass wir mit dem Berufsschulcampus nur wenig weitergekommen sind. Der Neubau in Stralsund bleibt dennoch eines unserer Kernprojekte.Persönlich und auch für unsere Bürger sehr schmerzhaft empfand ich den Verlust der Veranstaltungen. Mit dem Gesundheitsamt haben wir sehr genau geprüft, was vertretbar ist. Dennoch mussten Störtebeker Festspiele, Wallensteintage oder der Rügenbrückenlauf abgesagt werden. Für viele Vereine und Events sind wir wichtige Unterstützer. Mit 500 000 Euro fördern wir den Sport, mit rund 200 000 Euro die Kultur. Für das Theater Putbus haben wir zum 200-jährigen Jubiläum viel Geld in die Hand genommen. Es sollte für das Jubiläumsjahr schick sein, doch es konnte gar nicht gefeiert werden. Können Sie einen Ausblick auf Vorhaben 2021 geben? An 5G und Wasserstoff bleiben wir dran. Sonst hat die Entwicklung des Berufsschulcampus höchste Priorität. Hier wollen wir 2021 die Planungsleistungen vergeben. Die Kreisverwaltung soll klimafreundlicher werden. Wir statten den Fuhrpark mit Elektro-Autos aus. Am Standort im Carl-Heydemann-Ring brauchen wir weiterhin mehr Platz für Personal und dauerhaft gute Bedingungen. Hier arbeiten immer mehr Menschen. Nach ersten Gesprächen mit der Stadt gibt es gute Aussichten für Grundstücke in der unmittelbaren Nähe. Doch dieser Umbau ist Zukunftsmusik. 2021 wird es bei einer Vorstudie bleiben. Konkreter sind wir bei der Musikschule in Bergen. Diese wird barrierefrei. Hat sich Corona auf die Personalzahlen ausgewirkt? Im Kampf gegen das Coronavirus werden wir personell von anderen Behörden oder auch von der Bundeswehr und vielen Ehrenamtlern unterstützt. Dafür bin ich jedem Einzelnen ehrlich dankbar. Mit Blick in die Zukunft brauchen wir Nachwuchs in der Verwaltung. Corona direkt hat nur sehr wenige Einstellungen bewirkt. Aber die Leute, die wir jetzt kennenlernen, versuchen wir langfristig zu binden. Wie sieht es mit Homeoffice in der Verwaltung aus? Knapp die Hälfte der Mitarbeiter wurden dafür ausgestattet. In einzelnen Fachgebieten brauchen wir jedoch unbedingt die Präsenz. Ich selbst kann zu Hause arbeiten. Doch so einen richtigen Homeoffice-Tag hatte ich noch nicht. Ich bleibe lieber präsent im ‚Mutterschiff‘ und schaue dann eben mit Mundschutz in die Abteilungen rein. Wie geht die Familie mit der Situation um? Über unsere drei Kinder bekommen wir viele Probleme mit, die ein großer Teil der Bevölkerung gerade auch durchmacht. Unser Sohn geht noch in die Kita, unsere eine Tochter ist in der Grundschule, die Große befindet sich seit Monaten nur noch im Homeschooling. Auf die Dauer hält diesen Zustand keine Familie durch. Was sagen Sie zum Auftakt der Impfkampagne? Wenn wir von der Impfpanne absehen, ist die Kampagne gut angelaufen. Die Panne war für alle sehr traurig und hat überschattet, dass das Verimpfen des kostbaren Stoffes sehr gut organisiert wurde. Die Teams sind von einem Tag auf den anderen in die Schlacht gezogen. Anfang Dezember hat noch niemand daran geglaubt, dass wir bald impfen können. Auch das Rekrutieren von Personal hat besser funktioniert als angenommen. Und nun steht der Start des Impfzentrums bevor. Ja, dieser Aspekt macht mich optimistisch. Ich hoffe, dass wir mit dem Durchimpfen bis in die Jahresmitte hinein wieder der Normalität näherkommen können. Bis dahin kann noch viel passieren. Erst kürzlich habe ich gesehen, dass ein bekannter Künstler aus der Region wegen Corona seine Musikinstrumente über Ebay verkauft. Das ging mir sehr nahe und zeigt, dass unser System nicht jedem hilft. Gibt es einen Fahrplan hin zur Normalität? Wir haben im letzten Jahr gelernt, dass die Normalität nicht planbar ist. Für den leichten Novemberlockdown bekommen wir gerade die Quittung. Mein persönliches Gefühl sagt mir, dass wir für den Sommer hoffen können. Derzeit ist die Lage im Gesundheitsamt und in den Kliniken angespannt. Wir gehen davon aus, dass auch Vorpommern-Rügen bald wieder eine Inzidenz von mehr als 100 hat. Auch eine Inzidenz von 200 und die damit verbundenen Einschränkungen sind nicht unrealistisch. Wir laufen gerade hoch, obwohl die Achtsamkeit der Leute da ist. Aktuell können viele Corona-Fälle noch aufgeklärt werden. Der Trend geht jedoch dahin, dass das Infektionsgeschehen immer diffuser wird. Wie erleben Sie sonst die Auswirkungen von Corona auf die Region? Meine Hoffnung ist, dass wir gestärkt aus der Situation rauskommen können. Momentan findet ein Umdenken statt. Aus unserer Region sehen wir momentan keine Fluchteffekte und die Städter wollen hinaus aufs Land. Gleichzeitig verfolgt man in den Chefetagen die Entwicklung der dezentralen Arbeit und sieht, dass Wertschöpfung auch von zu Hause funktioniert. So kann das Ostsee-Office für viele zu einer echten Chance werden. Die Menschen suchen nach Achtsamkeit, Ruhe und Natur. Sie finden es bei uns. Sorgen mache ich mir dennoch um unsere Wirtschaft und unsere Bürger. Die Verlängerung des Lockdowns ist ein echtes Drama. Auch wenn ich Landrat bin, fühle ich mich in vielen Situationen ohnmächtig. Ich habe selbst Freunde angerufen, nachgefragt, ob die Novemberhilfen angekommen sind. Einige Unternehmer fallen durch das Raster, andere mussten Mitarbeiter kündigen. Menschlich zermürbt es mich, dass ich keinen Einfluss auf das System habe. Wann immer es passt, lege ich den Finger in die Wunde – und dränge darauf, dass nachjustiert wird. Eine gute Tourismussaison darf nicht über die prekäre Lage hinwegtäuschen, in der sich andere Branchen, wie unsere Textilhändler gerade befinden. Geht Ihr gegen die Händler vor, die an diesem Montag öffnen? Wir sind natürlich vorbereitet und schauen uns das am Montag genau an. Da sind aber auch noch ganz andere Behörden dabei und die Polizei. Wir werden darum aber keinen Riesenalarm machen. Wir gehen eher davon aus, dass die Aktion nicht viele Anhänger finden wird. 1374 Beschäftige zählt der Landkreis Vorpommern-Rügen inklusive aller Beschäftigten in den Eigenbetrieben aktuell. Damit ist er einer der größten Arbeitgeber in der Region. Wegen Corona hat sich ein Großteil der Arbeit verlagert. So hat das Telefonservicecenter des Landkreises 2020 bis zum 30. November rund 94 000 Anrufe bearbeitet, nur 56 500 waren es im Vorjahreszeitraum. 1270 Ordnungswidrigkeitenverfahren im Zusammenhang mit Verstößen gegen die Corona-Landesverordnung hat die Bußgeldstelle des Landkreises 2020 übernommen und Bußgelder in einer Gesamthöhe von 92 000 Euro verhängt. Die überwiegenden Verstöße betreffen Kontaktverbotsverstöße, Verstöße gegen das Einreiseverbot sowie Verstöße gegen das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung. Von Kay Steinke