Mehr Bedürftige: Sozialabgaben steigen

Kaum ein sozialer Zuständigkeitsbereich im Landratsamt kam im Jahr 2013 mit den im Haushalt vorab eingeplanten Geldern aus. Um mehr als 3,7 Millionen Euro sind die Sozialausgaben des Kreises im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Sechs Mal mussten die Mitglieder des Haushaltsausschusses des Landkreises Vorpommern-Rügen deshalb am Mittwochabend entsprechende Dringlichkeitsentscheidungen von Landrat Ralf Drescher (CDU) nachträglich abnicken. Drescher hatte vor Weihnachten eigenmächtig entschieden, die Mehrkosten zu bezahlen. Dies darf er tun, wenn anschließend die Kreistagsmitglieder ihr Okay dazu geben. Größter Kostenfaktor für den Landkreis: die Kosten für Unterkunft und Heizung für Hartz-IV-Empfänger. 53,2 Millionen Euro waren dafür im Haushalt veranschlagt. Am Ende müssen jetzt noch rund 1,7 Millionen Euro oben drauf gelegt werden. Grund sind nicht nur gestiegene Heizkosten, sondern auch die angewachsene Anzahl von Bedarfsgemeinschaften und Single-Haushalten, sagte Karina Werner, Fachdienstleiterin im Jobcenter. Rasant nach oben geht auch die Zahl der unter 25-Jährigen, die nicht mehr mit ihren Eltern unter einem Dach leben können und deshalb eine komplett eingerichtete Wohnung gestellt bekommen . Ausschussmitglied Eckehard Nitschke (CDU) wollte es kaum glauben, dass der Kreis dazu verpflichtet ist. „Das sind ja paradiesische Zustände, die es bestimmt nicht in allen Ländern gibt“, sagte er. Wenn die Betroffenen schwanger sind, ist der Kreis gezwungen, auch für die nötige Erstausstattung der Eltern zu sorgen, fügte Karina Werner hinzu. Allein in diesem Bereich sind die Ausgaben 2013 um 85 000 Euro gestiegen. Steigend sind zudem die Ausgaben für Verpflegungszuschüsse der in den Kitas betreuten Mädchen und Jungen. Von den insgesamt 13 000 Kindern, die eine solche Betreuungseinrichtung besuchen, sind es mittlerweile 7800, für die der Kreis die Verpflegung bezahlt, weil die Eltern dazu nicht in der Lage sind. „Das sind 60 Prozent“, wie Dörte Heinrich vom zuständigen Fachdienst Jugend vorm Ausschuss sagte. Sie erläuterte ebenfalls, dass auch die Kosten für die Hilfen zur Erziehung gestiegen sind. Auch dafür muss der Landkreis zwei Millionen Euro mehr als geplant ausgeben. Grund dafür sei auch die wachsende Zahl der Anzeigen auf Kindeswohlgefährdung zwischen der Insel Rügen, Ribnitz-Damgarten und Grimmen, sagte Heinrich. Gab es 2012 noch 460 Hinweise von Bürgern, lag diese Zahl im vergangenen Jahr bei 552. Je nach Gefährdungsgrad werde entschieden, ob die Kinder in Pflegefamilien oder in betreuten Wohnformen untergebracht werden. In manchen Fällen reiche auch eine Beratung durch die Familienhilfe. Bringen Gespräche mit Eltern keinen Erfolg, müssen Einzelfälle vom Familiengericht entschieden werden, sagte die Jugendamtsleiterin. Jugendnotdienst platzt aus allen Nähten Wieder hatte sich der Vater ordentlich einen hinter die Binde gekippt, und wieder wurde er handgreiflich, verprügelte die Achtjährige. Was sich hinter der verschlossenen Wohnungstür einer Kommune im Landkreis abspielte, konnte das Mädchen nicht mehr aushalten. Sie flüchtete vor dem aggressiven alleinerziehenden Vater, versteckte sich eine Nacht im Hausflur eines Klassenkameraden. Lehrerin und Jugendamt schalteten sich ein. Kurz darauf war das Mädchen (Name ist der Redaktion bekannt) in Sicherheit und stand beim Kinder- und Jugendnotdienst in Stralsund vor der Tür. „Für die meisten Mädchen und Jungen, bei denen ein Verdacht auf akute Kindeswohlgefährdung vorliegt, sucht das Jugendamt so genannte Bereitschaftspflegefamilien. Doch auch in unserem Notdienst stehen fünf Plätze für die Betreuung zur Verfügung — vom Baby bis zum 18-Jährigen“, erklärt Claudia Mann, die beim Internationalen Bund (IB) in Stralsund das Sachgebiet Hilfen zur Erziehung leitet und auch für den Kinder- und Jugendnotdienst in der Stralsunder Friedrich-Naumann-Straße zuständig ist. Gerade erst sei ein Geschwisterpärchen aufgenommen worden — drei Monate und drei Jahre alt. „Der Bedarf steigt stetig, das zeigen die Zahlen knallhart. Auch bei uns wird es eng, zumal wir ja nun nicht mehr nur für die Hansestadt, sondern für ganz Vorpommern-Rügen schnelle Hilfe anbieten. Deshalb verhandeln wir im Moment mit dem Landkreis, damit wir unsere Kapazität von fünf auf zehn Plätze erhöhen können“, sagte Sozialpädagogin Claudia Mann der OZ. Die Entscheidung über die Inobhutnahme bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt. Doch es gibt auch „Selbstmelder“. Dann klingeln Teenies beim Notdienst, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten. „Gemeinsam mit den Eltern und dem Amt suchen wir nach einer Lösung. Das ist nicht immer die Trennung von den Eltern. Manchmal reicht schon eine sozialpädgogische Familienhilfe“, sagt die IB-Mitarbeiterin. Das achtjährige Mädchen blieb einige Wochen im Notdienst, erholte sich, wollte aber keinesfalls wieder nach Hause und lebt nun in einer Kinder- und Jugendwohngruppe. Notruf rund um die Uhr Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn das körperliche, geistige und seelische Wohlbefinden in Gefahr ist. 39 Kollegen kümmern sich beim sozialpädagogischen Dienst des Landkreises um die Aufgaben des Kinderschutzes, betreuen Familien, leisten Jugendgerichtshilfe. Über eine Rufbereitschaft wird sofort geholfen, wenn Polizei, Arzt oder Nachbar eine Kindeswohlgefährdung anzeigen. Jeder Fall wird vertraulich behandelt. Hilfe für Kinder in Not: Hotline ☎ 0800/141 40 07, Jugendamt über Bürgerservice in Stralsund ☎357 1000, Jugendnotdienst ☎ 0171/313 22 20. Ines Sommer Reinhard Amler

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