Rätsel einer Barth-Zeichnung gelöst

Die markanten Schreie der Kraniche auf dem Feld neben der Straße erinnerten Rick Anderson sofort an zu Hause. „Wenn in Alaska die Kraniche kommen, verändert sich die Jahreszeit, ebenso wie hier“, sagte er. Später am Tag erfuhr der Amerikaner, dass die Kraniche dort standen, wo einst sein Vater Marvin Anderson als Kriegsgefangener im Nordcamp 1 des Stalags Luft I eingesperrt war. Rick Anderson (57) kam gestern nach Barth, um die Stätte der Gefangenschaft seines Vaters zu sehen. Er besuchte das Gelände des Stalag Luft I und die Ausstellung der Begegnungsstätte des Dokumentations- und Begegnungszentrums (DOK). „Mein Vater hat nicht viel über seine Zeit beim Militär und schon gar nicht über seine Kriegsgefangenenschaft erzählt“, so Anderson. Nur ein paar Stücke von damals gibt es noch. Unter anderem Zeichnungen des Vaters, die im Stalag Luft I entstanden — das Innere der Gefangenenbaracken und der Blick durch den Zaun nach draußen auf die Stadt. Das Bild von der Stadtsilhouette hat der Sohn mitgebracht. „Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass der Kirchturm und das Stadttor tatsächlich, so wie auf der Zeichnung, zum Greifen nahe sind“, staunte er. Aus den Zeichnungen Marvin Andersons ist ein Journal entstanden. 2007 ist er in Seattle verstorben. Sein Sohn war zum ersten Mal in Barth, in Europa überhaupt. Begleitet wurde Rick Anderson von Carsten Thies. Der Deutsche und der Amerikaner lernten sich vor acht Jahren im Internet kennen. Auf der Suche nach Fotos über Hundeschlittenrennen in Alaska für eine ARD-Dokumentation war Thies auf einer Fotoseite über die Stalag-Zeichen „gestolpert“. Damals wohnte der freie Journalist, der hauptberuflich als Pilot unterwegs ist, noch in Berlin. Thies bot Rick Anderson an, mal nach Barth zu fahren, um etwas über das Stalag zu erfahren. Das war 2006. „In der Stadt zeigte ich einige Zeichnungen herum, aber keiner wusste etwas darüber“, erinnerte er sich. Auf dem Stalag-Gelände machte Thies ein Foto von der Stelle aus, von der er annahm, dass es sich um die der Zeichnung handelte. Jetzt unternahmen die Freunde einen zweiten Versuch. Eine Woche lang fuhren sie herum, besuchten unter anderem in Berlin auf dem ehemaligen Flugfeld Gatow die Ausstellung über die Alliierten. Wie lange sein Vater im Stalag eingesperrt war, weiß Rick Anderson nicht. Er geht von anderthalb Jahren aus. Das Wenige was er weiß, hat ihm seine Mutter Lois erzählt. In der DOK-Ausstellung fanden sie mit Hilfe von Helga Radau vom DOK-Verein den Vater in der Liste der amerikanischen Kriegsgefangenen. Sohn Rick ist überwältig, ihn in Barth gefunden zu haben. Durch den Eintrag erfuhr er zudem, in welchem Abschnitt des Stalag Marvin Anderson gefangen gehalten wurde. Womit auch das Rätsel gelöst ist, von wo aus sein Vater die Stadt malte. Rick Anderson wird nach Barth zurückkommen, spätestens wenn sein Sohn Daniel das College abgeschlossen hat. „Es ist sein Traum, nach Europa zu kommen und dann fahren wir auch ganz sicher nach Barth“, sagte er. Kriegsgefangener 25 Jahre war Marvin Anderson alt, als er 1943 in deutsche Kriegsgefangenenschaft geriet. Als Navigator gehörte er zur Besatzung eines Bombers, der nach einem Einsatz schwer beschädigt den Rückflug nach Großbritannien nicht schaffte. Daher entschied sich die Besatzung, nahe der Ostsee herunter zu gehen. Von dem notgelandeten Flugzeug gibt es eine Fotografie. Es befand sich unter den Sachen des Vaters. Rick Anderson besitzt es heute. Es war seinerzeit nach dem „Crash“ von deutschen Soldaten gemacht worden und erschien in einer damaligen Zeitung. Marvin Anderson blieb bis zum Mai 1945 im Stalag Luft I in Barth. Zu sehen, was mein Vater sah, ist für mich sehr bewegend.“Rick Anderson (57) Claudia Haiplick

Barth - Rätsel einer Barth-Zeichnung gelöst