Grenzgänger mit offenem Herzen

Die Dorfstraße in Middelhagen ist an diesem Morgen wie leergefegt. Hundegebell und ein lautes „iaah, iaah“ durchbricht die Stille. Hinter hohen Bäumen und Hecken offenbart sich wie ein verwunschenes Paradies die alte Pfarrscheune in der Herbstsonne. „Dieses Haus hat seine Seele in Gebälk und Garten. Wenn wir warten tritt sie aus“, steht über der Tür. Es ist das Refugium von Frieder und Ingrid Jelen, die hier mit Esel, Hund und Katze leben. Umgeben von einem riesigen romantischen Bauerngarten mit Blumen, Obst und Gemüse. „Das ist Jelens Forest“, lacht der Hausherr und erzählt, dass hier 1981, als die Familie ins benachbarte Pfarrhaus einzog, nur Acker war. Jelen, der vorher in Stralsund Kreisjugendpfarrer und dann acht Jahre in Poseritz Pfarrer war und mit einer „Feierabendbrigade“ die Kirche in Swantow vor dem Verfall rettete, sei auf Mönchgut mit offenen Armen empfangen worden. Hier wurde der 1943 in einer Pfarrerfamilie Geborene auch politisch aktiv. „Wir hatten unsere eigene Perestroika“, schmunzelt er. Die Umweltprobleme wegen fehlender Kläranlagen, wilder Mülldeponien, der Verschmutzung des Boddens und des Kernkraftwerks Greifswald zwangen zum Handeln. Er und einige Mistreiter gründeten ein „Aktiv für Umwelt- und Landschaftsschutz“. Die Vorträge im „Walfisch“ in Lobbe waren gut besucht — auch von der Stasi. Doch man wollte nicht nur bellende Opposition sein. „Wir suchten den Schulterschluss mit den politischen Verantwortungsträgern, um mit den Betrieben etwas zu ändern “, erinnert sich Jelen. So kam er auch zur CDU kurz vor dem Mauerfall 1989. „Wir wollten sie hier von unten demokratisch neu aufbauen.“ Das wollte auch die SPD, doch die fragte ihn zu spät. „Sonst wäre ich in die SPD eingetreten. Ich bin ein Schwarz-rot-grüner, das kann man auch umdrehen. Ich war und bin ein Grenzgänger“, sagt der 69-Jährige, dem nicht die Partei, sondern immer die Sache wichtig war und der als junger Theologe den Prager Frühling vor Ort erlebte und sich begeistern ließ. Ihn habe immer interessiert, Glaube und Wissenschaft zu versöhnen, ein offenes Verhältnis zur Welt zu haben. 1990 wurde er Mitglied in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Als er gefragt wurde, ob er Ministerpräsident von MV werden wolle, lehnte er ab. „Ich traute mir das nicht zu, ich war doch nur ein Dorfpfarrer.“ Alfred Gomolka sagte zu. Jelen wusste es später als Umweltminister von MV besser. Diesem Amt folgten Jahre als Bürgerbeauftragter von MV und als Demminer Landrat. Trotz all seiner haupt- und ehrenamtlichen Funktionen, die er inne hatte und hat, mag er das Wort Karriere nicht. Er nennt es Entwicklung. Und die schönste Zeit? „Das war die Minne“, erinnert sich an die Studententage in Greifswald, als er seine Ingrid kennen lernte. Seit 44 Jahren sind sie verheiratet. Sein Stolz sind seine Kinder Cornelius (41) und Jorinde (37), die beide die Musik zum Beruf machten — und natürlich die drei Enkelsöhne. Die zum Zuhause gewordene Insel liegt ihm besonders am Herzen. Besorgt schaut er auf die massive Bebauung und den Zerfall von kulturhistorischer Substanz und engagiert sich u.a. im Verband Insula Rugia und in der Kulturstiftung. Der leidenschaftliche Hochgebirgs-Wanderer, der auch im Mönchguter Posaunenchor spielt und mehrere Lyrikbände veröffentlichte, hat sein spannendes Leben zu einem Buch zusammengefasst. „Meine Memorabilien“ erscheinen nun pünktlich zu seinem 70. Geburtstag, den er an diesem Sonntag ohne Aufsehen begeht. Er ist selbst gespannt, was noch kommt. „Es müssen Aufgaben sein, die nicht ärgerlich sind, sondern Freude machen. Sie wirken wie ein unsichtbares Netz, das mit positiven Dingen des Lebens vernetzt, aber auch mit positiven Menschen. Und seine Wirkung ist wunderbar: es trägt.“ Unermüdliches Engagement Am 29. September 1943 wurde Frieder Jelen in Kittlitz (Oberlausitz) geboren. Nach dem Studium der Theologie an den Universitäten Greifswald und Rostock war er zunächst als Assistent am Ökumenischen Institut der Evangelischen Kirchen in Berlin tätig und wurde dann Vikar sowie persönlicher Referent des Bischofs zu Greifswald. Seit 1973 lebt er auf Rügen. Jelen ist seit 1989 Mitglied der CDU. Er war 1990 Mitglied der ersten frei gewählten DDR- Volkskammer und von 1990 bis 1994 Mitglied des Landtages MV. 1993 wurde er Umweltminister MV, von 1995 bis 2000 war er Bürgerbeauftragter des Landes, von 2000 bis 2008 Demminer Landrat. Seit 2010 ist er Vorsitzender der Volkssolidarität Rügen. Gerit Herold

Middelhagen - Grenzgänger mit offenem Herzen