Preußens Kaiserin widmete der „Königlichen“ eine Bibel

An Christi Himmelfahrt feierten die Binzer die 100 Jahre der evangelischen Kirche, zu Pfingsten nun begehen die Selliner dieses besondere Jubiläum ihrer Gnadenkirche, die sich trotz der erhöhten Lage auf einem Hang westlich der August-Bebel-Straße hinter dem Grün der Bäume und Sträucher gut zu verstecken versteht. Eine beinah märchenhafte Atmosphäre macht sich hier breit, wenn der Wind die Blätter zu einem kleinen Liedchen verführt und die Vögel mit einstimmen, vereinzelt Sonnenstrahlen durch das Dach der Bäume das achteckige Gotteshaus erhellen. „Die Königliche“ nennt sie Pastor Olav Metz daher auch gern. Und er weiß, dass die Gnadenkirche, am 8. Juli 1913 eingeweiht, eine spannende Geschichte zu erzählen hat. Bevor diese aber begann, gehörte die Selliner Kirchengemeinde zu Lancken-Granitz. Durch die rasante Entwicklung vom Fischerdorf zum Badeort und damit immer mehr Gästen blieben die Selliner in der eigenen Gemeinde. Einheimische und Kurgäste versammelten sich zu Waldgottesdiensten unter Buchen und saßen auf einfachen Bänken. Regen und ein fehlender Versammlungsraum im Winter, aber auch der beabsichtigte Bau einer Katholischen Kapelle auf der südöstlichen Seite des Ortes führen letztlich zu dem Beschluss, die Evangelische Kirche zu errichten. Diese hat noch etwas mit der Binzer Kirche gemein. Sie nämlich steht ebenfalls auf Grund, der einst von der Fürstin Marie zu Putbus gestiftet wurde. Wahrhaft königlich ging es zur Einweihung zu. Denn die Deutsche Kaiserin und Königin von Preußen Auguste Victoria schenkte dem neuen Gotteshaus die noch heute wie einen Schatz im Pfarrarchiv gehütete Altarbibel — mit einer Widmung. „Steht fest im Glauben, seid mutig, seid stark“, so schrieb die Königin auf die erste Seite. „Und diesen Spruch haben die Gemeindemitglieder oft praktizieren müssen, denn die doch sehr junge Geschichte der Kirche ist eine sehr bewegte“, sagt Pastor Metz. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Not überall im Land groß war, wurden viele Flüchtlinge aus den Ostgebieten aufgenommen. Im Jahr 1947 teilen Helfer der Kirchgemeinde täglich etwa 50 Kindern ein warmes Essen aus und noch 1952 gab es regelmäßig Gebetsgottesdienste für die Menschen in Gefangenschaft. Nur ein Jahr später, 1953, bei der Aktion Rose, wurden durch generalstabsmäßig angelegte Zwangsmaßnahmen und Willkür viele Haus- und Pensionsbesitzer enteignet. „Viele, die die Kirche mit aufgebaut hatten, sich für sie einsetzten, verließen den Ort. Die meisten kamen nicht zurück“, weiß Olav Metz. Seitdem nahm der staatliche Druck weiter zu. Es wurde massiv Werbung für die Jugendweihe gemacht und sich gegen die kirchliche Konfirmation gerichtet. Am 24. April 1960 traf es die Kirche besonders hart: Nach einem Konfirmationsgottesdienst stand sie in Flammen. Dachstuhl und Glocken wurden zerstört, der Kirchraum verwüstet. Offiziell wurde der Ausbruch des Feuers auf einen schadhaften Schornstein zurückgeführt. Die Vermutung der Brandstiftung raunte durch den Ort, der Vorfall wurde nie aufgeklärt. Doch die Selliner hielten zusammen, sammelten Material für den Wiederaufbau und feierten 1962 Richtfest. Ein Jahr später wurden die drei neuen Glocken geweiht. Sie tragen die Inschriften: „Dona nobis pacem“ (Herr, gib uns Frieden), „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“ und der plattdeutsche Spruch „Krieg und Füür hebben uns nahmen, 63 sünd wi wedderkamen un hängen hier baben uns Herrgott to laben“. Steffi Besch

Sellin - Preußens Kaiserin widmete der „Königlichen“ eine Bibel