Sassnitz auf Rügen: Letzte Zuflucht Obdachlosenheim

Es sind ganz unterschiedliche Schicksale, die die 16 Bewohner des Obdachlosenhauses in Sassnitz dorthin geführt haben. Oft spiele Sucht als Auslöser eine Rolle, sich anhäufende Mietschulden seien die Folge und schließlich die Kündigung der Wohnung durch den Vermieter, weiß Heike Martens, Leiterin des Hauses. In dem alten Backsteingebäude in der Dorfstraße 6 in Sassnitz mit seinen 15 Zimmern finden die gescheiterten Existenzen, meist sind es Männer, eine Bleibe. Nicht nur für die Nächte. „Wir setzen hier niemanden am Morgen auf die Straße“, erzählt die Leiterin. In anderen Kommunen sei dies gängige Praxis. „Einige sind nicht mehr in der Lage, allein zu leben.“: Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch und ein Schrank in einem kleinen Zimmer, zwei Gemeinschaftsbäder im gesamten Haus für alle Bewohner: Wer hier lebt, ist froh, wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. „Viele unserer Bewohner leben hier schon länger, einer bereits seit 1995“, berichtet Heike Martens. Wer ins Sassnitzer Obdachlosenhaus einzieht, hat zuvor beinahe alles verloren. Nicht nur die Wohnung, viele auch den Kontakt zu Familienmitgliedern und nicht zuletzt den Lebensmut. „Einige müssen tatsächlich erst wieder lernen, regelmäßig zu essen, auch die Körperpflege“, erzählt sie. Im Obdachlosenhaus haben sie und ihre Kollegin auf all das ein Auge. „Prinzipiell versuchen wir, dass die Menschen wieder auf eigenen Beinen stehen können“, sagt sie. Denn einige seien gar nicht mehr in der Lage, allein zu leben. Immer mehr Jüngere werden obdachlos: Betrieben wird die Unterkunft für Sassnitzer Obdachlose vom Grundvighaus-Verein. Im Auftrag der Stadt Sassnitz, denn deutschlandweit ist es Aufgabe der Gemeinden, Notunterkünfte für Obdachlose zu stellen. Mit im Rettungsboot sitzen zudem die städtische Wohnungsgesellschaft Wogesa, der das Backsteinhaus gehört, und die Wohnungsbaugenossenschaft. Erst 33 Jahre jung ist der jüngste Heimbewohner, der älteste 73. Unter den aktuell 16 Bewohnern ist eine Frau. „Gerade die Älteren sind Wendeverlierer. Menschen, die durch die Wende ihre Arbeit verloren haben, in ein Loch gefallen sind, aus dem sie nicht mehr herauskamen“, sagt die Leiterin. Zunehmend würden aber jüngere Menschen nicht mehr Schritt halten können. Heike Martens nennt sie „Die zweite Generation Hartz 4“ - junge Menschen, denen im Elternhaus vorgelebt wurde, in den Tag hinein zu leben. „Woher sollen sie es dann besser wissen?“, fragt sie. Lesen Sie auch: Vorpommern-Rügen: Gewerkschaft warnt vor Mangel an Seniorenwohnungen Jedes Schicksal bewegt, manches auch intensiver: In dem Heim werde darauf geachtet, dass die Bewohner einen halbwegs strukturierten Tag haben. „Sie brauchen jedoch kontinuierlich Anleitung und Motivation“, sagt sie. Aber wer dort lebt, will sich zumindest ein Stück weit helfen lassen. Und so funktioniere das Zusammenleben auch größtenteils. Obgleich es auch mal Streit unter den Bewohnern gebe. Heike Martens, die seit sechs Jahren die Fäden als Leiterin des Hauses zieht, hat schon viele Menschen kommen und gehen gesehen. „Einige sind gestorben. Ein paar wenige haben es auch geschafft, wieder eine eigene Wohnung beziehen zu können“, erzählt sie. Jedes einzelne Schicksal bewege sie – manches auch etwas intensiver. Wie jenes eines Mannes, der aktuell in dem Backsteinhaus lebt. „Ein hochintelligenter Mann, einst selbstständiger Unternehmer, der durch die Corona-Krise alles verloren und sich schließlich aufgegeben hat“, erzählt sie. Er sei eher der Einzelgänger unter den Bewohnern. Dass aktuell jeder Bewohner ein Einzelzimmer hat, kommt ihm zugute. „Platz haben wir für 22 Bewohner, denn einige Zimmer sind für zwei Personen ausgelegt“, informiert die Leiterin. Wenn die Platzkapazität im Haus mal ausgeschöpft sein sollte, könne sie auf die Zimmer in zwei zusätzlichen Containern auf dem Grundstück zurückgreifen. „Die haben allerdings eine Renovierung dringend nötig, sind wirklich nur eine Notunterkunft“, berichtet sie. Deshalb sei aktuell auch lediglich ein Zimmer in den Containern bewohnt. Präventionsarbeit soll Obdachlosigkeit verhindern: Damit es erst gar nicht so weit kommt, leisten sie und eine Kollegin in Sassnitz auch Präventionsarbeit. „Wenn einem Mieter der Wogesa beziehungsweise der Wohnungsbaugenossenschaft die Kündigung des Mietvertrages droht, werden wir informiert, um das Gespräch zu suchen“, berichtet Heike Martens. Aber nicht jeder wolle sich helfen lassen – meist aus Scham. Aufgrund der Corona-Krise sei die Arbeit in den zurückliegenden Monaten etwas eingeschränkt gewesen. „Aber wir sind gut durch die Zeit gekommen“, meint die Leiterin des Heims, die, wie ihre Kollegin auch, ebenso Ansprechpartnerin für Obdachlose ist, die sich nicht für die Unterbringung im Heim entschieden haben, die sich anders durchschlagen. „Sie kommen dann unter anderem, weil sie neue Wäsche brauchen“, erzählt sie. Deshalb seien auch immer Wäschespenden, sei es Herrenkleidung in kleineren Größen oder auch Bettwäsche und Handtücher, gern gesehen, berichtet sie abschließend. Von Anja Krüger