Sassnitzer Seniorenchor feiert 40. Geburtstag mit Mundschutz

Dorothee Günther hat im Akkord Noten geschrieben. Diesmal nicht auf Papier. Mit einem Filzstift hat sie auf diese Art und Weise Baumwollmasken gestaltet. Die mussten die Leiterin des Sassnitzer Seniorenchors und die Sängerinnen bei ihrem Jubiläumskonzert tragen. „Aber nur auf dem Weg durch den Saal im E-Werk zu unseren Plätzen“, sagt die 69-Jährige. Zum 40. Geburtstag ihres Chors haben die Frauen sich selbst ein Ständchen gesungen - ohne Mund-Nasen-Schutz, aber mit dem gebotenen Abstand. Lange hatte es danach ausgesehen, als müssten die Feier und das Konzert abgeblasen werden. „Corona hat uns heftig ausgebremst“, sagt Dorothee Günther und meint die Schutzvorkehrungen. Wochenlang mussten die Proben ausfallen, weil Zusammenkünfte untersagt waren. Als die Regelungen schließlich gelockert wurden, durften sich die Sängerinnen nicht wie üblich im Block, sondern nur mit dem notwendigen Sicherheitsabstand aufstellen. Sie habe bei den Proben zwar so viel von einem zum anderen wetzen müssen, dass sie schon Kilometergeld hätte bekommen müssen, scherzt die Leiterin. „Das hatte aber auch sein Gutes.“ Niemand habe sich bei dieser Aufstellung mit seiner Stimme neben oder hinter der des anderen verstecken können. Fantastische Sopranstimmen: Das haben die Frauen – Männerstimmen sind nicht dabei – auch gar nicht nötig. Bei jeder Probe steht in der ersten Viertelstunde Stimmbildung auf dem Plan. „Wir haben ganz fantastische Soprane dabei“, schwärmt die Leiterin von ihren Sängerinnen. Natürlich sei die Stimme im Alter eine andere als in der Jugend. Aber darauf könne man sich bei der Auswahl der Titel, die einstudiert werden, einstellen oder bestimmte Passagen anpassen. „Beim hohen F ist Schluss“, sagt Günther. Weiter sollten die Stimmen der Chormitglieder nicht strapaziert werden. Nicht nur die Töne sollen klar und rein klingen. Einen hohen Stellenwert hat beim Seniorenchor auch die Sprecherziehung. Was nützt die beste Musik, wenn der Text nicht beim Zuhörer ankommt? Das Problem hat das Publikum bei den Konzerten des Seniorenchors eher selten. Dorothee Günther ist sicher: „Man versteht bei uns jedes Wort.“ Und dass, obwohl sie selbst aus einer Thüringer Familie stammt. Doch schon ihre Mutter, die vor ihr jahrelang die Gesangs-Truppe leitete, war begeistert: Es sei wunderschön, mit einem norddeutschen Chor zu arbeiten, schwärmte sie seinerzeit. Gegründet im Klub der Volkssolidarität: Dass er Seniorenchor heißt, hat nicht allein mit dem Geburtsjahr der Sängerinnen zu tun. Die sind zwischen 47 und 86 Jahre alt. Viel jünger sind die Mitglieder der meisten anderen Vokal-Ensembles auch nicht. Der Name hat seinen Ursprung in erster Linie in der Geschichte des Chors. Der wurde vor 40 Jahren von Heinz Bohlmann gegründet. Bohlmann arbeitete im damaligen Klub der Volkssolidarität an der Sassnitzer Hauptstraße. Der war traditionell Anlaufpunkt für Rentner. Und so waren auch die ersten Sänger vorwiegend Ruheständler. „Zu DDR-Zeiten war Vollbeschäftigung für Frauen ja an der Tagesordnung“, erinnert Dorothee Günther. Zeit für nachmittägliche Proben hatten die Frauen erst, wenn sie in Rente gegangen waren. Senioren und Volkssolidarität – das war damals untrennbar miteinander verbunden. Und so nannte man Bohlmanns Sängergruppe eben „Seniorenchor“ – in Abgrenzung zu anderen Chören. Keine Männerstimmen mehr: Anfangs sangen noch Männer mit. Der spätere Leiter Eberhard Ertel hatte sie aus seiner Instrumentalgruppe rekrutiert, die ebenfalls im Klubhaus der Volkssolidarität zu Hause war. 1987 übernahm Ingeborg Petsch, die Mutter von Dorothee Günther, die Regie. 23 Jahre lang formte die ausgebildete Chorleiterin das Ensemble, das mittlerweile ausschließlich aus Frauen bestand, musikalisch. Vor zehn Jahren, zum 30. Jubiläum, übergab sie das Zepter an ihre Tochter. „Ich wollte das ursprünglich gar nicht“, erinnert sich Dorothee Günther. Sie ist zwar in einer musischen Familie aufgewachsen. Der 1967 verstorbene Komponist Kuno Petsch war ihr Vater. Dorothee Günther spielte seit jungen Jahren Klavier und mittlerweile Flöte und übte sich früh in eigenen Kompositionen. Sie sang auch in dem Chor, den ihre Mutter leitete. Aber an dessen Spitze zu stehen, musikalisch und organisatorisch für alles verantwortlich zu sein, erschien ihr doch als eine gewaltige Bürde. Schließlich siegte die Einsicht in die Notwendigkeit. Sonst wäre der Chor vielleicht vor zehn Jahren auseinandergefallen. Volkslieder sind am beliebtesten: Es gibt so etwas wie einen Kern von langjährigen Mitgliedern. Fünf Frauen sind seit mehr als 20 Jahren dabei, Irmgard Brethack seit 28 Jahren. Ansonsten ist es ein Kommen und Gehen. Viele Sängerinnen steigen aus gesundheitlichen oder Altersgründen aus, neue kommen an Bord. Für die Chorleiterin ist das eine Herausforderung. Ständig überarbeitet und aktualisiert sie das Repertoire. Das besteht zu großen Teilen aus Volksliedern. „Die sind bei unseren Sängerinnen am beliebtesten.“ Auch Eigenkompositionen wie die „Ostseegesichter“ von Ingeborg Petsch, die damit ein Gedicht des Sassnitzers Willi Ritter vertont hat, singen die Frauen gern. Schunkellieder sind verpönt, Schmachtfetzen und schmalzige Töne und Texte in kleinen Dosen erlaubt. „Im schönsten Wiesengrunde“ sei so ein Grenzfall, sagt Dorothee Günther schmunzelnd. Die Maxime lautet, dass die freundlichen, optimistischen Töne überwiegen müssen. „Der Spaß am Singen ist doch das Wichtigste.“ Wenn sie mal nicht den Chor leitet, setzt sich Dorothee Günther ans Klavier oder spielt Flöte. Oder sie stimmt Mendelssohn oder Mozart an. „Ich singe gern mal einen schweren, anspruchsvollen Satz“, sagt sie. Gelegenheit dazu hat sie von Zeit zu Zeit im Sagarder Kirchenchor, dem sie ebenfalls angehört. Dem Sassnitzer Seniorenchor wird sie deshalb nicht abtrünnig. Wenigstens bis zu ihrem 75. Geburtstag will sie dessen Geschicke lenken. „Dann wird es Zeit für eine Nachfolgerin.“ Lesen Sie auch „Die Greif – das sind unsere Lieder“ Greifswald: Komponist des Jahres schreibt für Theater Vorpommern Rügen: Altes Kühlhaus im Hafen von Sassnitz soll Kulturzentrum werden Von Maik Trettin