Amtsgericht Stralsund verhandelt erstmals mit Bildschirm-Anwalt

Amtsgericht Stralsund, erste Etage, hinten links: In einem unscheinbaren Sitzungssaal wird am Freitagvormittag eine Mietsache verhandelt – und ein kleines Stück Geschichte geschrieben. Ein Stralsunder blieb für seine 42-Quadratmeter-Wohnung in der Sarnowstraße längere Zeit die Miete schuldig. Anstatt die Wohnung zu räumen, wie es das Landgericht bereits angeordnet hatte, zog zwischenzeitlich seine neue Frau mit ihrer Tochter ein. Der Fall zieht sich seit knapp zwei Jahren und steht nun offenbar kurz vor dem Abschluss. „Ich werde am 31. Januar ausziehen“, beteuert der Mann. Er wäre schon längst draußen, müsste er nicht für die Renovierung der neuen Wohnung das Baumaterial wegen des Lockdowns im Internet bestellen. Dass der Räumungstitel auch für seine Frau gilt, erkennt er umgehend an. Sascha Ott: „Das ist für uns eine Premiere.“: Der Prozess wird aber nicht wegen seiner zügigen Klärung im Gedächtnis bleiben, sondern weil der Rechtsanwalt der Wohnungseigentümer nicht selbst im Raum ist. Dort, wo er sitzen sollte, steht ein großer Bildschirm, über den er zugeschaltet ist. Eine Kamera filmt für ihn in den Raum. „Das ist für uns eine Premiere“, sagt vor Verhandlungsbeginn ein stolzer Gerichtsdirektor Sascha Ott, der als Richter den Prozess leitet. Lange Zeit habe er sich dafür eingesetzt, dass die notwendige Technik angeschafft wird. Letztlich erfolgreich: Das Schweriner Justizministerium gab grünes Licht. „Ich sitze hier in meinem Büro in Rösrath in der Nähe von Köln vor dem Laptop“, erzählt Anwalt Wolfhard Gosewisch nach für Videokonferenzen klassischen Vorab-Sätzen wie „Können Sie mich hören?“ und „Ich sehe Sie gut“. Für eine frühere Verhandlung in Stralsund sei er von Köln nach Berlin geflogen, habe sich dort einen Mietwagen genommen, um weiter nach Nordosten zu reisen. Nach dem Termin ging es denselben Weg zurück. Diese Kosten entfallen nun, ebenso kann der Jurist seine Zeit effektiver nutzen. Entlastung für den Steuerzahler: Somit verringern sich auch die Prozesskosten. Für diejenigen, die sie nicht zahlen können und Hilfe beantragen, springt der Staat ein. Das heißt unterm Strich: Auch wenn die Anschaffungskosten für die Video-Technik nicht gering sind, dürfte doch eine merkliche Entlastung für den Steuerzahler die Folge sein. Auch das Amtsgericht Stralsund spart Zeit und Sprit. Denn für Besprechungen mit den Kollegen der Zweigstelle Bergen auf Rügen oder des zum Amtsgericht gehörenden Grundbuchamtes im Stralsunder Landgerichtsgebäude muss sich künftig niemand mehr ins Auto setzen. Auch Opfer- und Zeugenbefragungen können auf diese Weise erfolgen. Kontakte werden vermieden. So sorgt die Coronakrise nun auch im Gericht für einen Modernisierungsschub. Anwalt Gosewisch: „Nordrhein-Westfalen kann sich ein Beispiel an Mecklenburg-Vorpommern nehmen.“ Lesen Sie auch: Steuer-Einbruch wegen Corona: So will Stralsund raus aus dem Minus „Das Böse darf nicht die Oberhand gewinnen“: Das sagen Usedomer zum Jikeli-Anschlag Eine Art Richter-Cockpit: „Wir haben außerdem auf digitale Akten umgestellt“, erklärt Sascha Ott. Die Dokumente der Mietsache werden auf einem Bildschirm neben seinem Platz angezeigt. Zudem hat er zwei Tablet-Computer vor sich, um die Anlage zu steuern und um sich zu filmen. Hinzu kommen eine Tastatur, eine Sprechanlage und ein Telefon. Der Arbeitsplatz erinnert aufgrund der ganzen Technik an eine Schaltzentrale, ein Art Richter-Cockpit. Übliche Probleme wie ein stockendes Bild oder ein rauschiger Ton bleiben aus. Ott spricht während der Verhandlung in sein Diktiergerät und spielt die Aufnahme vorm Mikro noch einmal laut für den Anwalt in der Nähe von Köln vor. Dieser hält seinerseits Kopien von Beweisfotos vor die Kamera. Beide Herren gehen souverän mit der Technik um. Die Vorwürfe prasseln auf den Beklagten ein: Zwischenzeitlich dreht Gosewisch richtig auf, wirft dem Beklagten in eindringlichem Tonfall vor, es in mancherlei Hinsicht mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen zu haben. Dass der Anwalt dabei leicht von oben in die Kamera spricht, lässt ihn etwas übergroß wirken. Das verleiht seinen Vorwürfen noch mehr Wucht. Die Worte prasseln auf den Angeklagten ein. Jedoch lässt der sich davon nicht beeindrucken. Denn auch er weiß mit der Technik umzugehen beziehungsweise sie zu umgehen: Er schaut einfach nicht auf den Bildschirm, sondern auf den Boden, schüttelt leicht den Kopf. Er atmet hörbar aus und wartet, bis er widersprechen kann – wie in einer ganz normalen Verhandlung. Von Kai Lachmann