Corona-Lockdown und Amazon: Händler aus Stralsund und Greifswald bangen

„Räumungsverkauf“, „Wir schließen“ oder „Ausverkauf wegen Corona“: Diverse Plakate in den Innenstädten von Stralsund und Greifswald zeichnen schon jetzt ein düsteres Bild von der Zukunft des stationären Handelns. Der zweite Lockdown 2020 hat die Non-Food-Branche bedrohlich hart getroffen, viele Händler bleiben auf der Winterware sitzen. Sie wenden sich verstärkt verzweifelt an die Industrie- und Handelskammer zu Rostock (IHK). „Erst nimmt man uns das Oster-, dann das Weihnachtsgeschäft“, blickt Torsten Grundke, Vize-Präsident der IHK, kritisch auf die politischen Entscheidungen – denn der Zeitpunkt hätte aus rein wirtschaftlicher Perspektive nicht schlimmer sein können. „Für viele ist die Weihnachtszeit die umsatzstärkste Zeit des Jahres“, sagt Grundke. Traditionell würde in dieser Phase etwa 20 bis 35 Prozent des Jahresumsatzes gemacht werden. „Besonders wichtig sind die Wochen vor und nach Weihnachten. Doch auf diese müssen viele stationäre Händler nun verzichten, während die Online-Riesen weiter aufhaben.“ Den entstandenen Schaden könnten die Finanzhilfen der Politik derzeit nicht ausgleichen, die IHK fordert Klarheit. Corona-Lockdown entzieht Händlern Existenzgrundlage: Grundke sieht die Existenz etlicher Händler bedroht. In der IHK zu Rostock häufen sich zu diesem Thema derzeit die Telefonate. Die Industrie- und Handelskammer macht daher Druck auf die Politik. Dennoch ist schon jetzt klar: Die Stralsunder Innenstadt wird verändert aus der Krise hervorgehen. So hat sich der traditionsreiche Berliner Schuhhändler Aktiv-Schuh, der Filialen in Stralsund und Greifswald betreibt, bereits Mitte 2020 in ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung begeben – wegen drohender Zahlungsunfähigkeit. Das Unternehmen will sich in Eigenregie neu aufstellen. Welche Läden erhalten bleiben, ist unklar. Nicht wieder eröffnen wird laut einer Mitarbeiterin wohl der Laden „Hammer Schuh“, der ebenfalls zur Aktiv-Schuh-Handelsgesellschaft gehört. Pandemie beschleunigt Aussterben der Altstädte: Corona scheint das Aussterben der Altstädte derzeit massiv zu beschleunigen, während die großen Online-Händler profitieren. Bedrohlich wirkt auf die Einzelhändler daher die nahende Expansion von Amazon in MV. Der Online-Riese will in nahezu allen größeren Städten des Landes neue Zustellzentren errichten und so Lieferungen noch am selben Tag möglich machen. In Schwerin und Neubrandenburg hat Amazon schon Grundstücke im Blick. In Dummerstorf bei Rostock soll 2021 ein sogenanntes „Fulfillment“-Center entstehen. Amazon will sich in Vorpommern ansiedeln: Auch für die Kunden in Vorpommern Amazon aktiv werden. Laut OZ-Informationen hat der Online-Riese den Blick auf ein Gewerbegebiet bei Grimmen geworfen. Von dort aus könnten die Hansestädte Stralsund und Greifswald ab 2022 von Amazon schneller bedient werden. Auch wenn sich Amazon zu den einzelnen Standortentwicklung derzeit noch nicht äußert, hebt ein Sprecher die Relevanz für den Handel in der Region hervor. „Wir wollen in allen Regionen, in denen wir aktiv sind, ein guter Nachbar sein“, heißt es im Statement. Und weiter: „Wir beschäftigen Menschen, die in der Region leben und wohnen, dort einkaufen und deren Kinder dort zur Schule gehen. Darüber hinaus ist über die Hälfte der bei uns gelagerten Ware von Händlern, die unsere Infrastruktur nutzen. Zudem haben 2019 rund 400 kleine und mittlere Unternehmen aus Mecklenburg-Vorpommern mit der Hilfe von Amazon Waren im Wert von 25 Millionen Euro ins Ausland exportiert.“ OB Badrow: „Ganz klarer Angriff auf den Einzelhandel.“: Die Auswirkungen einer Amazon-Ansiedlung beschäftigt auch den Stralsunder Bürgermeister. „Wenn die bestellten Sachen künftig in drei Stunden beim Kunden sind, setzen sich die Leute auch nicht mehr ins Auto und fahren zu den Läden, sondern lassen sich ihre Waren bequem nach Hause liefern. Das ist ganz klar ein Angriff auf den Einzelhandel“, sagt Alexander Badrow (CDU). Allerdings hätten viele in Deutschland noch gar nicht auf dem Schirm, wie die Entwicklung weitergeht. „Ich bin mir sicher, dass künftig die richtigen Riesen aus China mit großer Dominanz auf den Markt drängen werden. Da hat der stationäre Handel erstmal schlechte Karten und muss sich dringend überlegen, wie er vor Ort noch besser punkten kann, welche Einkaufserlebnisse und welchen Service das Internet nicht bietet“, sagt Badrow. Finanzhilfen der Politik sind keine adäquaten Hilfen für Modehäuser: Gegen den drohenden Niedergang der Innenstädte stemmt sich seit Jahren Herrmann Jeske, der mit Birgit Jesske die großen Modehäuser in der Stralsunder und Greifswalder City betreibt. Die geplanten Ansiedlungen von Amazon und des Möbelhauses XXL-Lutz kritisiert er als „aktive Sterbehilfe für die Altstadt“. Dabei stellt er heraus, dass der lebendige Handel zu einer Hansestadt gehört. „Der Handel ist ein zentrales Kulturgut in unserer Gesellschaft. Er hat eine große Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, eine integrative Kraft und formt attraktive, schöne und lebendige Innenstädte.“, sagt er. Wie der gesamten Branche hätte der Lockdown auch seinen Häusern stark zugesetzt. „Wir können seit November bis wahrscheinlich im Februar große Teile der Herbstware nicht verkaufen“, sagt er. Auf den Waren würden sie sitzen bleiben, dabei müssten sie damit den Umsatz für den Einkauf der Sommerware generieren. „Aber wir haben wahrscheinlich über zwei Monate hinweg null Einnahmen“, sagt er. Dieses Problem sei viel größer als eine eventuelle Hilfe bei den Fixkosten. „Für diese wirtschaftlichen Zusammenhänge ist keinerlei Verständnis bei den Politikern“, sagt Jesske. Die Schließungen durch die Politik würden das Geschäft unplanbar machen. „Kaufen wir nicht ein, können wir keine Umsätze machen. Kaufen wir ein, bleiben wir auf der Ware wie 2020 sitzen“, beschreibt er das Dilemma. Lesen Sie auch Stralsund: Nachbarschaftszentrum öffnet Heiligabend Nachwuchsfreuden in Stralsund: Willkommen Joey-Joel, Ruby und Fabian Kai Gude drängt auf gemeinschaftliches Konzept für Innenstädte: In einer ähnlichen Situation befindet sich Kai Gude, Inhaber von Gude Mode und Lifestyle. Nach dem ersten Lockdown hat er angefangen einen Online-Shop aufzubauen. Bisher hätte dieser aber nur „ein Zuverdienst“ erwirtschaftet. Durch die unsichere Planungslage würden erst im Frühjahr die nächste Kollektion einstellen. „Ich bin ein Verfechter der Innenstadt. Daher werde ich mich auch dort in Zukunft engagieren“, sagt er. Den derzeitigen Lockdown nutz Gude für eine konzeptuelle Neuausrichtung seiner Läden. Während der Flagship-Store in der Stralsunder Altstadt bleibt, wird der Outlet-Laden geschlossen. Dafür wird ein neuer Outlet-Laden im Strelapark enstehen. „Online-Händler wie Amazon zählen schon jetzt zu unseren Konkurrenten. Wir müssen vor Ort als Dienstleister dagegen halten. Unseren Service und unsere Beratung kann ein Online-Händler nicht bieten“, so Gude. Er spricht sich dafür aus, dass Potential der Altstädte gemeinschaftlich zu aktivieren. Gude hebt in diesem Bezug das Konzept des Strelaparks hervor. Dort würden alle Händler von gemeinsamer Vermarktung und den Events profitieren. „Stadt, Politik und Händler müssen sich zusammensetzen“, fordert er. Ähnlich sieht es Grundke. „Frühlingsfeste, Blumenmarkt, Jazztage. Durch solche regelmäßigen Events kann die Innenstadt belebt werden“, sagt er. Eine Eventisierung der Altstadt allein reiche jedoch nicht aus. „Die Einzelhändler müssen sich wie ein Einkaufszentrum unter freiem Himmel begreifen. Mit einheitlichen Öffnungszeiten und einem Service, den die Kunden von Online-Händlern gewohnt sind, wie einem unproblematischem Umtausch.“ Damit könnte auch ein Strukturproblem angehen, dass derzeit Greifswald und Stralsund schwächt. „Viel Kaufkraft geht den Vorpommern derzeit am Wochenende verloren. Auch unsere Leute gehen dann in Rostock einkaufen.“ Von Kay Steinke