Jüdischen Leben in Stralsund: Mit einem Gottesdienst ins Festjahr

Der ausgekühlte Altarraum der Stralsunder katholischen Pfarrei St. Bernhard am Frankenwall 7 machte es den auftretenden Instrumentalisten nicht leicht. Ihre Finger wurden schon beim Proben klamm, Heizstrahler sollten gegen die Kälte helfen, damit der besondere ökumenische Gottesdienst an diesem Sonnabend trotzdem etwas werden konnte. Zum Gedenken an die Mitte Februar 1940 in den Osten deportierten Stralsunder Jüdinnen und Juden hatten die beiden Kirchgemeinden St. Nikolai (evangelisch) und St. Bernhard (katholisch) sowie der Bund der Deutschen Katholischen Jugend aufgerufen. Mit der Aktion wollen sie die Erinnerung wachhalten an Menschen, die vor und während des 2. Weltkriegs den Repressionen einer unmenschlichen Gewaltherrschaft ausgesetzt waren, damit solch ein System nie wieder Platz in unserer Gesellschaft findet. Familie von Martha Cohn verlor 1940 ihr Leben: Unter den 34 deportierten jüdischen Bürgern befand sich auch Martha Cohn, die 1868 im heutigen Naklo (Polen) geboren wurde. Sie lebte mit ihrer Familie in der Mönchstraße 37, wo sich auch ihr Geschäft für Herrengarderobe befand, das sie nach dem Tod ihres Mannes weiterführte. Martin, einer ihrer Söhne, war für kurze Zeit Arzt in Stralsund, bevor er die Zulassung durch die Gesetze der nationalsozialistischen Regierung verlor. Im Zuge der Reichspogromnacht 1938 verloren sie ihre gesamte Existenzgrundlage und wurden in der ersten Deportationswelle aus Stralsund nach Stettin/Lubin gebracht. Die gesamte Familie verlor noch im Jahre 1940 ihr Leben. Doch ihre Geschichte bleibt nicht vergessen. So erinnern seit 2008 vor ihrem alten Wohnhaus Stolpersteine von dem Berliner Künstler Gunter Demnig. Fast 200 Zuschauer über das Internet: Auf diese und weitere Schicksale gingen die Redner während des Gottesdienstes ein. Musikalisch wurden sie unterstützt von Friederike Fechner (Cello), Anton Werner (Klavier) und der Klezmer Band „Querbeet“ aus Stralsund. Da es unter Corona-Bedingungen nicht möglich war, die Gedenkveranstaltung im größeren öffentlichen Rahmen abzuhalten, sendeten die Veranstalter den Livestream über das Internet. Zu sehen ist der Mitschnitt auf dem Videoportal Youtube. Bisher haben Stream und Mitschnitt fast 200 Zuschauer angesehen. Sie finden diesen auch über folgenden Link: bdkj-berlin.de/themen/shalom-judisches-leben/ Mit diesem am Sonnabend veranstalteten Gottesdienst beginnen für den Bund der katholischen Jugend Berlin eine Reihe von Veranstaltungen in 2021, die sich auf das Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beziehen. Dazu wird es in der Hansestadt Stralsund über das ganze Jahr hinweg etliche Veranstaltungen geben. Ein Höhepunkt werden die jüdischen Filmtage vom 23. bis 29. August im Bürgergarten sein. Gezeigt werden dort Produktionen jüdischer Filmemacher. Währenddessen wird es auch einen jüdischen Imbiss geben, in dem nicht nur die Esskultur präsentiert wird, sondern auch jüdische Kultur durch den Magen geht. Viele Ausstellungen zum jüdischen Leben geplant: Einen Ausstellungs-Auftakt soll es jedoch bereits Mitte März geben. So zeigt das Stralsund Museum voraussichtlich ab dem 19. März eine Sonderschau zum Thema „Ausverkauf des jüdischen Geschäftes Horneburg“. Dafür soll die Herkunft der Sammlungsobjekte, die im Verdacht stehen, aus nationalsozialistischen Verfolgungskontexten zu stammen, näher erforscht werden. John Horneburg war ein Stralsunder Antiquar, mit dem das Museum bis zur Abwicklung seines Ladens durch die nationalsozialistischen Behörden 1939 in enger geschäftlicher Beziehung stand. Insgesamt wurden knapp 20 jüdische Geschäfte zerschlagen. Der Geschichte der jüdischen Kaufmannsfamilien wird im April eine eigene Schau gewidmet. Ab dem 31. Oktober bis Jahresende wird die Wanderausstellung „Un-er-setz-bar“ vom Erinnerungsort Topf & Söhne aus Erfurt in der Kulturkirche St. Jakobi gezeigt. Laut Veranstalter birgt das Zeugnis der letzten Überlebenden nationalsozialistischer Vernichtung eine große Chance. „Ihre Botschaft – die Grundsolidarität des Menschen mit dem Menschen – ist die Substanz für eine weltoffene, menschliche Zukunft“, heißt es. Die Ausstellung ist fünf Überlebenden und ihren Familien gewidmet. Ihr Leben bezeugt verschiedene Dimensionen der nationalsozialistischen Verfolgung, des Widerstands und der Rettung. 2021 kann jüdisches Leben in Deutschland auf eine 1700-jährige Geschichte zurückblicken. Bundesweit wird deshalb ein Festjahr veranstaltet, an dem sich auch etliche Akteure aus Stralsund mit einem vielfältigen Programm beteiligen. Auch Stralsund hat eine reiche jüdische Geschichte, die im 13. Jahrhundert begann. Jedoch wurden jüdische Menschen um 1500 weitgehend aus Stralsund vertrieben. Erst im 18. Jahrhundert siedelten sich wieder Juden in der Hansestadt an. Lange Zeit war die jüdische Gemeinde Stralsunds das Zentrum der Juden in ganz Vorpommern, sie zählte bis zu 170 Mitglieder. Nachdem im Jahr 1943 die letzten Juden aus Stralsund in die Vernichtungslager deportiert wurden, scheiterte ein Versuch des Neuaufbaus einer jüdischen Gemeinde im Jahr 1947. Ein Überblick über alle Programmpunkte finden Sie über diesen Link: www.stralsund.de/2021jlid Von Christian Rödel