Majorel-Callcenter in Stralsund schließt: 1000 Jobs in MV in Gefahr

„Hier werden eindeutig Existenzen zerstört“, sagt Max P., Mitarbeiter von Majorel MV, der anonym bleiben möchte. In der vergangenen Woche wurde die Belegschaft der Majorel Stralsund GmbH darüber informiert, dass der internationale Konzern, der sich selbst als globaler Marktführer für Kundenerfahrungsmanagement beschreibt, den Standort in Stralsund dichtmachen will. Damit wird nicht nur das ehemalige Arvato-Callcenter an der Stralsunder Schwedenschanze verschwinden. Einer der größten Arbeitgeber verlässt die Hansestadt. Fast 400 Menschen werden ihren Job verlieren. Langer Abschied: 14 Monate bis zur endgültigen Schließung: Die Nachricht von der drohenden Betriebsstilllegung traf die Belegschaft hart. „Es ist schon ein Schock“, sagt Max P.. „Viele der Kollegen sind sehr enttäuscht.“ Laut einer Mitteilung der Unternehmenskommunikation will sich das Dienstleistungsunternehmen mit Hauptsitz in Luxemburg und einem Umsatz von rund 1,2 Milliarden Euro nicht nur aus der Hansestadt zurückziehen. Geschlossen werden auch die Standorte in Neubrandenburg und Schwerin. „Die Majorel Stralsund GmbH schreibt trotz intensiver Anstrengungen aller Beteiligten bereits seit Längerem rote Zahlen“, heißt es in dem Statement. „Vor diesem Hintergrund plant das Management jetzt, die notwendigen Schritte einzuleiten, um den Geschäftsbetrieb des Unternehmens zum 31. Dezember 2021 einzustellen.“ Die Geschäftsführung hat den Betriebsrat und die gut 370 Mitarbeiter des Stralsunder Servicecenters am Dienstag über diese Pläne informiert und angekündigt, umgehend in Verhandlungen mit der Arbeitnehmervertretung einzutreten, um einen Interessenausgleich und Sozialplan zu vereinbaren. Management streicht in MV fast 1000 Jobs: Das Management will angeblich sozialverträgliche Lösungen finden – für insgesamt fast 1000 Jobs in ganz MV. Denn mit den Standorten in Neubrandenburg und Schwerin sind landesweit 950 Arbeitnehmer betroffen. Lediglich der Standort in Rostock soll derzeit noch nicht angefasst werden. Hintergrund für die Konzernentscheidung in Bezug auf Stralsund soll die fehlende Wirtschaftlichkeit der Gesellschaft sein. „Das Unternehmen arbeitet seit geraumer Zeit mit Verlusten. Versuche, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sind gescheitert“, so erklärt es das Management. Weiterhin gäbe es auf absehbare Zeit auch keine Möglichkeit, die Verlustzone zu verlassen.“ Für die Betroffenen wirken diese Worte wie Hohn. „Die Entwicklung und auch die letzten Zahlen waren positiv. Nur musste der Standort an die Konzernmutter so viel abgeben, dass am Ende ein minimales Minus stand“, hält Max P. dagegen. Der bestehende Vertragspartner im Mobilfunk hätte Majorel weiterhin zu wenig Geld für den Auftrag geboten und dazu unerfüllbare Quoten gestellt. „Zu wenig Geld für Majorel“, sagt Max P. „Majorel“ hieß früher „Arvato“: Früher war „Majorel“ unter dem Namen „Arvato“ bekannt, seit 2006 waren sie in Stralsund unter diesem Namen vertreten, mit bis zu 450 Mitarbeitern. Doch Mutterkonzern Bertelsmann benannte seine Callcenter-Sparte Anfang 2019 nach Fusion mit der marokkanischen Saham Group um. In Deutschland werden derzeit noch 25 Standorte zu Majorel gezählt. Die Tendenz ist sinkend. Trotz namhafter Aufträge für Marken. Auf der eigenen Website wirbt Majorel unter anderem damit, seit 2020 die österreichische bank99 im Kontowechselservice zu unterstützen. Dazu hätte man einen Kundenservice für den „VW -Vergleich“ übernommen. Und die Firma profitiert sogar von der Corona-Krise: So unterstützt Majorel einige Bundesländer im Kampf gegen das neuartige Virus mit einer Bürgerhotline. Aber die Telefonisten sitzen offenbar nur in Cottbus, Brandenburg, Düsseldorf, Dortmund und Berlin – nicht aber in MV. Über die Aufträge in Stralsund – also welche Mobilfunkmarke am Sund betreut wird – will Majorel nicht sprechen. Wandern die Jobs ins Ausland ab? Bertelsmann-Chef Thomas Rabe hatte den Zusammenschluss damals mit hohen Investitionskosten in der Branche begründet. Investiert werden sollten Millionen in Analysetechnik, künstliche Intelligenz, Automatisierung und Expansion. Von Standortschließungen in MV war nicht die Rede. Es werden sogar neue Standorte eröffnet – aber eher im Ausland. Zuletzt wurde ein Center im US-amerikanischen Greenville eröffnet. Damit steigt die globale Präsenz von Majorel auf derzeit 120 Standorte in 29 Ländern mit insgesamt 53 000 Mitarbeitern an. Mit der zunehmenden Internationalisierung wirbt der Konzern. Allein im Laufe des letzten Jahres sollen Standorte in Armenien, Georgien, Italien, Marokko, den Niederlanden, Senegal und Togo dazugekommen sein. Das „Hochdeutsch vom Sund“ ist künftig also offenbar verzichtbar. „Der Arbeitgeber hat neuerdings auch zwei Callcenter in Griechenland aufgemacht“, sagt Max P. „Für den Mobilfunkbetrieb.“ Das rechnet sich offenbar. Doch Max P. warnt vor der Strategie: „Es gibt genügend Kunden, die bei mir am Telefon davon reden, dass sie schon vorher Kontakte in andere Länder hatten. Keiner konnte helfen, auch weil sie die Sprache nicht konnten.“ Dadurch könnte die Qualität im Kundenservice deutlich verlieren. Einer der größten Arbeitgeber in Vorpommern geht: Den Landkreis Vorpommern-Rügen verlässt ein großer Arbeitgeber. Denn gerade einmal 95 Betriebe – das sind ein Prozent der Firmen im Landkreis – beschäftigen mehr als 100 Arbeitnehmer. „Mit mehr als 300 Mitarbeitern handelt es sich um eines der großen Unternehmen nicht nur in der Hansestadt, sondern in der ganzen Region“, sagt Dr. Jürgen Radloff, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Stralsund. Laut seiner Einschätzung hätten Call-Center weiterhin in ganz Vorpommern eine starke Bedeutung für die sozialversicherungspflichtige, ganzjährige Beschäftigung. „Die Firmen dieser Branche beschäftigen in beiden vorpommerschen Landkreisen deutlich über 3000 Mitarbeiter“, sagt er. „Gerade in den letzten Jahren ist die Branche in Vorpommern-Rügen durch mehrere Ansiedlungen stark gewachsen. Entsprechend groß war der Bedarf an Personal in einem angespannten Arbeitsmarkt.“ Dadurch hätten sich zuletzt sogar die Beschäftigungsbedingungen deutlich verbessert. Auch aktuell gäbe es Jobs für Call-Center-Mitarbeiter in beiden Kreisen. „Als Arbeitsagentur werden wir alles daransetzen, dass die Betroffenen wieder in neue Beschäftigungsverhältnisse einmünden, bestenfalls ohne Zeiten der Arbeitslosigkeit“, so Radloff. Majorel ist ein internationales Dienstleistungsunternehmen mit Hauptsitz in Luxemburg. Es entstand 2019 durch die Zusammenführung der Aktivitäten von Bertelsmann und Saham im Kundenservice-Management. Bertelsmann und Saham halten jeweils die Hälfte der Anteile. Den Vorsitz der Geschäftsführung hat Thomas Mackenbrock (Chief Executive Officer) übernommen. Die Branche, in der Majorel aktiv ist, zählte 2019 in MV rund 12 400 Beschäftigte. Konzerne wie der Autovermieter Sixt und die Telefonunternehmen Telefonica (O2) sowie Deutsche Telekom setzen auf das akzentfreie Hochdeutsch des Nordostens und betreiben eigene Servicecenter in Rostock und Schwerin. Dazu kommen unzählige Drittanbieter, die für eine Vielzahl an Auftraggebern Kundenanfragen bearbeiten. Zu den größten in MV zählen neben Majorel (ehemals Arvato), Capita und Transcom. Rund 70 Prozent der Callcenter-Mitarbeiter in MV leben von einem Gehalt, das nach deutschlandweiten Maßstäben als Niedriglohn gilt. „Hunderte Mitarbeiter stehen vor dem Nichts“: Doch genau davor haben viele Mitarbeiter bei Majorel MV gerade Angst. „Hunderte Mitarbeiter stehen vor dem Nichts“, sagt Max P. „Viele sind ungelernt, älter oder haben Handicaps. Sie werden in der Region schwer einen neuen Job bekommen. Vor allem, wenn alle gleichzeitig auf den Markt schwemmen.“ Traurige Worte. Dabei gibt Max P. an, gern bei Majorel zu arbeiten. „Das Betriebsklima war immer hervorragend. Wir sind wie eine große Familie. Unser Standort war von den Ergebnissen der zweitbeste deutschlandweit für den Mobilfunkbetreiber. Trotzdem schließt er. Das lässt tief blicken“, so Max P. Lesen Sie auch: Stralsund: Bürgerschaft sucht Alternative zu Weihnachtsmarkt Stralsund verhängt Haushaltssperre Hochschule Stralsund: Kennt uns Facebook besser als unser Partner? Vollsperrung auf B 105 von Kummerow bis Martensdorf: Tipps für Umleitung Von Kay Steinke