Stralsund: Keine Impfung für kranken Norman (27): "Haben solche Angst"

Ralf Lange ist verzweifelt, er macht sich große Sorgen um seinen schwerkranken Sohn Norman. Der 27-Jährige leidet an einer Duchenne Muskeldystophie und ist ein Intensiv-Pflegefall. Seit 2016 liegt er im Bett und ist auf eine Beatmung über ein Tracheostoma – eine Verbindung zwischen äußerem Luftraum und Luftröhre – angewiesen. Umso wichtiger ist, dass er schnellstens gegen Corona geimpft wird, findet der Vater. „Bis letztes Jahr haben wir die Grundpflege selbst übernommen, aber das ging dann einfach nicht mehr, weil meine Frau Heike inzwischen herzkrank ist“, sagt der Marine-Offizier, der 1995 aus Wilhelmshaven nach Parow an die Marinetechnikschule bei Stralsund kam und seitdem mit seiner Familie, zu der noch ein Sohn und eine Tochter gehören, in Groß Mohrdorf lebt. Erschütternde Diagnose bekam Norman mit 2 Jahren: Die erschütternde Diagnose Duchenne Muskeldystophie bekam die Familie, als Norman 2 Jahre alt war. „Er war in seiner Entwicklung sehr verzögert, der Kinderarzt hat nach den Ursachen gesucht, und dann kam die niederschmetternde Nachricht.“ Doch noch als Sechsjähriger konnte Norman laufen, bekam ein Behinderten-Dreirad und mit zehn Jahren den ersten E-Rollstuhl. „Er hat zwar Muskeln, aber die sind nicht beweglich. Erst konnte er nicht mehr laufen, dann nicht mehr im Rollstuhl sitzen. Mittlerweile kann er das Bett nicht mehr verlassen“, schildert der Ralf Lange die letzten Jahre im Zeitraffer und gesteht: „Die große Angst ist immer, dass Herz- und Atemmuskulatur versagen.“ Die Muskeldystrophie des Typs Duchenne (auch Duchenne-Muskeldystrophie oder DMD genannt) ist die häufigste muskuläre Erbkrankheit im Kindesalter. Sie tritt etwa in einer Frequenz von 1:3600 bis 1:6000 auf. Es sind fast nur Jungen betroffen. DMD ist eine genetisch determinierte Synthesestörung des Muskelstrukturproteins Dystrophin. Die Erbkrankheit beginnt im Kleinkindalter mit einer Schwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur und schreitet rasch voran. Durch optimierte Therapie mit Heimbeatmung und der Anwendung von Cortisonpräparaten bereits im frühen Kindesalter hat sich die Prognose in den letzten Jahren verbessert, und auch die Lebenserwartung ist durch die verbesserte medizinische Versorgung in den letzten Jahren angestiegen. Heute wird oft das 3. Lebensjahrzehnt erreicht. Größte Sorge ist die Abnahme der Atemfunktion. Eine Heilung von Duchenne-Muskeldystrophie ist bisher nicht möglich. Schwerkrank – Aufgeben kommt dennoch nicht in Frage: Doch auch wenn der 27-Jährige ans Bett gefesselt ist und sich wegen Corona große Sorgen macht, gibt er nicht auf. Er kann zwar kaum sprechen, doch je ein paar Finger jeder Hand beherrschen das Tippen auf der Computertastatur. Auch die Maus kann er bedienen. Und so sind zwei große Bildschirme vor ihm im Bett der Kontakt zur Welt draußen – außerhalb der elterlichen Wohnung. Das Chatten im Internet ist Normans Lebensqualität. Und die will er sich unbedingt erhalten. „Weil mein Sohn den Pflegegrad 5 hat, übernimmt ein Intensiv-Pflegedienst die Versorgung und Betreuung von Norman.“ Dieser Pflegedienst wollte Norman Lange eigentlich über seine stationären Einrichtungen in Stralsund und Bergen gleich mit impfen lassen. „Als diese Nachricht kam, waren wir erleichtert. Doch dann hieß es, dass man nur die Wohngemeinschaften bedienen würde. Eine Begründung gab es nicht“, berichtet Ralf Lange. Er weiß, dass den Pflegedienst keine Schuld trifft, denn die Regelungen, wer wann die Spritze mit dem Serum bekommt, hat die Ständige Impfkommission (Stiko) getroffen. Vater: Das ist doch eine versteckte Triage: Ralf Lange empfindet diese Regelungen der Stiko als ungerecht, denn der Kranke werde in eine untere Schublade gesteckt. „Man spricht bei der Behandlung von Covid19-Patienten oft von einer Triage, aber wo ist denn der moralische Unterschied zwischen einem 80-jährigen Menschen in einer Pflegeeinrichtung und zum Beispiel einem 27-Jährigen, der zu Hause gepflegt wird, einem Jungen, der sein Risiko ständig vor Augen hat und dem bewusst ist, dass eine Infektion den sicheren Tod bedeutet. Ich empfinde das als versteckte Triage – schon in der Corona-Prävention. Und da rede ich nicht nur von Norman, sondern auch von anderen Kranken, die in der Öffentlichkeit nicht jeden Tag Beachtung finden.“ Wer trifft endlich eine Einzelfallentscheidung? Familienvater Lange hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um für seinen Sohn eine Impfung zu organisieren. Als Chef der Groß Mohrdorfer Feuerwehr kennt er natürlich viele Leute. „Ich verstehe ja, dass der Impfstoff knapp ist. Aber ganz ehrlich: Wir leben in ständiger Angst. Norman hatte in den letzten Jahren immer wieder schwere Lungenentzündungen. Ist doch klar, dass wir eine nächste verhindern wollen, denn die könnte sein Todesurteil sein.“ Auch bis nach Schwerin hat der 57-Jährige geschrieben. Eine Antwort kam noch nicht. Dabei hatte die Stiko vor ein paar Tagen den Weg frei gemacht für Einzelfallentscheidungen. Landkreis bittet um Geduld: „Ich verstehe die Familien, die ein solches Schicksal tragen müssen. Und ich weiß auch, dass die Regeln nicht ganz gerecht sind. Doch wenn wir jetzt Ausnahmen machen, kommen viele andere auch. Und vor lauter Ausnahmen gibt es dann keine Regeln mehr. Aber ich bin froh, dass wir einen Fahrplan haben, nach dem wir uns richten können“, sagt Jörg Heusler, Chef des Gesundheitsamtes Vorpommern-Rügen, und ergänzt: „Ich bitte einfach um etwas Geduld.“ Lesen Sie auch Impfen in Vorpommern-Rügen: Mehr Angebote für Menschen auf Land gefordert Vorpommern-Rügen richtet vier weitere Impfzentren ein Feuerwehr: Neure Amtswehrführer in Altenpleen Der Fall Norman Lange ist auch im Impfzentrum des Landkreises bekannt. „Das Schicksal des jungen Mannes zeigt, dass solche Fragen dringend geklärt werden müssen. Auch andere Schwerstkranke haben sich an das Landesamt für Gesundheit und Soziales und an die entsprechenden Ministerien in Schwerin gewandt. Deshalb gehen wir davon aus, dass man an der Lösung des Problems arbeitet“, sagt Landkreis-Sprecher Olaf Manzke auf OZ-Anfrage. Familie wartet und hofft: Währenddessen kämpft Ralf Lange weiter, schreibt Briefe und wartet auf Antworten. Jeden Tag mit der Hoffnung, dass es die Impfzusage gibt und bald ein mobiles Team in Groß Mohrdorf vor der Tür steht. Von Ines Sommer